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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

In der lan­gen Ge­schich­te der Deu­tun­gen von Kaf­kas be­kann­tes­tem Roman las­sen sich die ver­schie­de­ne In­ter­pre­ta­ti­ons­an­sät­ze auch zeit­lich von­ein­an­der ab­gren­zen. So kön­nen jü­disch-theo­lo­gi­sche Pro­cess-Lek­tü­ren bis auf Max Brods Nach­wort zur Erst­aus­ga­be des Schloss-Ro­mans 1926 zu­rück­ge­führt wer­den (Brod 1926). Brod und - in sei­ner Nach­fol­ge – Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft­ler wie Rit­chie Ro­bert­son (1985) oder Karl Erich Grö­zin­ger (1992) ver­ste­hen Jo­seph K.s Pro­zess als Kampf des schuld­be­la­de­nen Men­schen mit einem für das mensch­li­chen Ver­ste­hen in­kom­men­sura­blen, also dem „mensch­li­chen Ur­teil ent­rück­ten“, Gott („Ge­setz“). Ein sol­cher Zu­gang zum Text zeigt, wie sehr sich Kaf­kas Schrei­ben in­ner­halb des sym­bo­li­schen und ge­dank­li­chen In­ven­tars der Thora, ihrer kab­ba­lis­ti­schen Ne­ben­tex­te und tal­mu­di­schen Aus­le­gun­gen be­wegt (Gröt­zin­ger, Abra­ham, Ro­bert­son). Doch auch wenn im ge­sam­ten Roman immer wie­der Spu­ren zur jü­di­schen Tra­di­ti­on füh­ren („Die Schrift ist un­ver­än­der­lich.“), ist man in der For­schung mehr­heit­lich davon ab­ge­rückt, den Pro­cess als „rea­lis­tisch-theo­lo­gi­sche Welt­deu­tung“ (Brod) in der jü­di­schen Tra­di­ti­on zu be­trach­ten. Da­ge­gen spre­chen nicht zu­letzt die Schä­big­keit und mo­ra­li­sche Ver­werf­lich­keit, mit der die Re­prä­sen­tan­ten eines (nach die­ser Les­art gött­li­chen) Ge­richts, das „fast nur aus Frau­en­jä­gern be­steht“, ge­zeich­net wer­den. Auch sub­ver­tiert Kafka re­li­giö­se Sinn­stif­tun­gen, indem er – wie eine glück­li­che For­mu­lie­rung Ger­hard Neu­manns lau­tet – „blin­de Pa­ra­beln“ schafft. Dar­un­ter las­sen sich Texte ver­ste­hen, die durch pa­ra­do­xe Struk­tu­ren auf eine hö­he­re Wahr­heit ver­wei­sen, ohne diese je­doch durch eine mo­ra­lisch in­te­gre Be­glau­bi­gungs­in­stanz (wie einen Pro­phe­ten) le­gi­ti­mie­ren zu kön­nen (vgl. Tür­hü­ter-Ge­schich­te). So ge­se­hen wer­den auch die Er­klä­run­gen der „Pa­ra­beln“, wie sie bei­spiels­wei­se in der Dom-Szene vor­ge­führt wer­den, zu einem „Aus­le­gungs­thea­ter“ (Neu­mann), in dem Si­gni­fi­kan­ten hin und her ge­scho­ben wer­den, ohne dass sie je­doch Ver­bind­lich­keit ge­ne­rie­ren.

Die be­reits von den frü­hen theo­lo­gi­schen In­ter­pre­ta­ti­ons­an­sät­zen ins Zen­trum ge­rück­te Schuld­fra­ge bil­det auch den Aus­gangs­punkt für die seit der Pu­bli­ka­ti­on des Briefs an den Vater (1952) flo­rie­ren­den bio­gra­phisch-psy­cho­lo­gi­schen Deu­tun­gen (z. B. von Bin­der, Stach, Alt). Sol­che Deu­tun­gen be­ru­fen sich auf ein au­to­bio­gra­phi­sches Ver­weis­sys­tem an Chif­fren wie „K.“ (Kafka) und F räu­lein Bürst­ner (für Kaf­kas Ver­lob­te Felice Bauer) oder aus pri­va­ten Ein­tra­gun­gen ab­ge­lei­te­te Be­zü­ge („Ge­richts­ver­hand­lung“ durch Grete Bloch (Frau Mon­tag in den Frag­men­ten) und Fe­li­ce Bauer (Bürst­ner)), die als Aus­gangs­punkt für Fra­gen nach Schuld­haf­tig­keit und ödi­pa­ler Tri­an­gu­la­ri­tät die­nen. Frau­en­fi­gu­ren fun­gie­ren dabei häu­fig in einer dop­pel­ten Rolle als Hel­fe­rin­nen und Agen­tin­nen des Be­geh­rens, ge­gen­über deren do­mi­nan­ter Kör­per­lich­keit (Lenis Schwimm­häu­te an den Hän­den) sich K. oft skru­pu­lös ge­riert. Auch wenn die enge Ver­wo­ben­heit von Kaf­kas Werk mit sei­ner Bio­gra­phie un­zwei­fel­haft ist, sind ein­sei­ti­ge psy­cho­lo­gi­sche An­sät­ze als Ge­samt­deu­tun­gen des Ro­mans in der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft in­zwi­schen ob­so­let. Wie Man­fred Engel im Kafka-Hand­buch her­vor­hebt, wer­den sie den vie­len Schich­tun­gen des Ro­mans nicht ge­recht, weil sie im schlech­tes­ten Fall Kafka pa­tho­lo­gi­sie­ren oder psy­cho­ana­ly­ti­sche Mo­del­le auf ein li­te­ra­ri­sches Werk ok­troy­ie­ren, des­sen Er­zähl­in­stanz no­to­risch un­zu­ver­läs­sig ist.

Sieht man von de­kon­struk­ti­ven Lek­tü­ren ab, die auf­bau­end auf struk­tu­ra­lis­ti­sche Ana­ly­sen der 1960er Jahre (Fr. Beiß­ner, M. Wal­ser) in der De­ka­de um die Jahr­tau­send­wen­de be­son­de­re Be­deu­tung ge­wan­nen und ge­ra­de im Hin­blick auf die Dom-Szene wich­ti­ge Bei­trä­ge zur Pro­ble­ma­tik der pa­ra­do­xen Pro­zes­se von Sinn­kon­sti­tu­ti­on und Sinn­zer­stö­rung lie­fern (Kolb 1999), zei­gen sich neue­re Les­ar­ten oft als me­tho­di­sche Hy­bri­de. Struk­tu­rell set­zen sich sol­che Lek­tü­ren häu­fig mit „Aby­mi­sie­run­gen“ (Engel), d. h. mit selbst­re­fle­xi­ven Pas­sa­gen wie Rich­ter­bil­dern, ge­bro­che­nen Al­le­go­ri­en (Jus­ti­tia als Jagd- und Sie­ges­göt­tin) oder dem Aus­le­gungs­dra­ma der Dom-Szene (Der­ri­da, Kolb) aus­ein­an­der. Die Un­ter­su­chun­gen von kom­mu­ni­ka­ti­ver Macht in­ner­halb der Kafka’schen Sprach­spie­le, deren Reiz in den Nu­an­cen des Miss­ver­ste­hens liegt, wird im Rück­griff auf Fou­caults Dis­kurs­ana­ly­se und kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Le­se­prak­ti­ken er­wei­tert. Ins Blick­feld rü­cken Trans­gres­sio­nen zwi­schen K.s Pri­vat­sphä­re und der Pro­zess-Hier­ar­chie. Sie kon­ter­ka­rie­ren jede ju­ris­ti­sche Rechts­pra­xis und kor­re­lie­ren gleich­zei­tig mit den für Kaf­kas Schrift­stel­ler­da­sein ty­pi­schen Grenz­über­schrei­tun­gen zwi­schen au­to­bio­gra­phi­schem und fik­tio­na­lem Schrei­ben.

Blickt man auf die Figur des Jo­seph K., so ver­bin­det sich des­sen Un­fä­hig­keit zur Ori­en­tie­rung in den wu­chern­den To­po­gra­phi­en des Ge­richts­sys­tems mit der feh­len­den Ent­wick­lung sei­ner Per­sön­lich­keit. Ador­no zu­fol­ge ließe sich Der Pro­cess gat­tungs­ty­po­lo­gisch als „schei­tern­der De­tek­tiv­ro­man“ lesen (Ador­no, No­ti­zen zu F. K., 1953). Wie viele Kri­mi­nal­ge­schich­ten be­ginnt der Roman mit einer rät­sel­haf­ten Ver­haf­tung, auf die im Hand­lungs­ver­lauf je­doch keine suk­zes­si­ve Auf­de­ckung der Hin­ter­grün­de oder gar eine Lö­sung des Aus­gangs­rät­sels er­folgt. Da­durch führt Kafka das er­zäh­le­ri­sche Spiel der De­tek­tiv­ge­schich­te, die gen­re­ty­pisch zu­meist auch die Ab­grün­de der Per­sön­lich­keit des Tä­ters ent­hüllt, ins Leere. Selbst wenn sich Kafka sich der für Kri­mi­nal­ge­schich­ten ty­pi­schen nar­ra­ti­ven Ele­men­te von Ver­ber­gung und Ent­hül­lung (Ver­hö­re, Ge­ständ­nis­se, Dis­zi­pli­nie­rungs­maß­nah­men) sowie der eben­falls ein­schlä­gi­gen ko­mö­di­an­ti­schen und ero­ti­schen De­vi­an­zen be­dient, bleibt das Er­zäh­len epi­so­den­haft und zu­fäl­lig. Am Ende steht denn auch kein gro­ßes Auf­klä­rungs­thea­ter im Stil eines Ar­thur Conan Doyle, son­dern die Mar­gi­na­lie der ope­ret­ten­haft in­sze­nier­ten Hin­rich­tung Josef K.s. So­wohl K.s Schuld als auch die In­ten­tio­nen des Ge­richts ver­blei­ben im Dun­keln. Denn trotz sei­ner Kar­rie­re als Bank­be­am­ter ver­fügt K. über keine ko­hä­ren­te Le­bens­ge­schich­te. Das Feh­len einer er­kenn­ba­ren Iden­ti­tät tritt im Lauf des Pro­zes­ses immer deut­li­cher her­vor, weil im Kampf mit den Kräf­ten un­durch­schau­ba­rer Hier­ar­chi­en K.s un­ge­nü­gen­de Ur­teils- und Lern­fä­hig­keit ex­po­niert wird. Wie vor­her Karl Ross­mann im Ver­schol­le­nen und spä­ter der Land­ver­mes­ser K. im Schlosslässt sich der Pro­zess des­we­gen auch als Kon­traf­ak­tur auf einen Bil­dungs­ro­man zu lesen. Denn Prot­ago­nis­ten in Bil­dungs­ro­ma­nen ent­wi­ckeln ihre Per­sön­lich­keit stets im Aus­tausch zwi­schen der For­mie­rung der ei­ge­nen Per­sön­lich­keit und der durch Wis­sens- und Er­fah­rungs­ge­winn ge­lin­gen­den In­te­gra­ti­on in so­zia­le Räume. Im bes­ten Fall fin­det die Haupt­fi­gur (wie zum Bei­spiel Wil­helm Meis­ter) am Ende sei­nes Bil­dungs­ge­schich­te sei­nen Platz im Lebe. Wie in allen Ro­ma­nen Kaf­kas blei­ben die Be­mü­hun­gen der zen­tra­len Fi­gu­ren um Iden­ti­tät je­doch auf einer „Schwund­stu­fe“ (Neu­mann), weil sie sich in einer un­ver­ständ­li­chen Hier­ar­chie („Ame­ri­ka“, Jus­tiz­sys­tem, Schloss) ver­lie­ren und von An­fang ein nur zu einem ge­trüb­ten Blick auf sich selbst im­stan­de sind. Die Be­son­der­heit von Kaf­kas Schrei­ben liegt nun darin, dass er sol­che Zer­mür­bungs­pro­zes­se auf sprach­li­cher Ebene sicht­bar macht. Denn er in­sze­niert zum Bei­spiel in der Ge­richts­sze­ne eine – schon von der frü­hen Kafka-Re­zep­ti­on (Musil, Tucholksy) be­wun­der­te – stän­di­ge Un­schär­fe der Per­spek­ti­ve, die zwi­schen sub­jek­ti­ver Wahr­neh­mung im Hier und Jetzt (in­ter­ne Fo­ka­li­sie­rung) und ob­jek­ti­vie­ren­der Dis­tan­zie­rung in einem zeit­lich ver­setz­ten Be­richts­stil (he­te­ro­die­get­scher Er­zäh­ler), chan­giert. K.s ge­bro­che­ner Blick auf sich selbst, der gleich­zei­tig ein kul­tur­dia­gnos­ti­scher auf die Ent­frem­dung und Ver­ein­ze­lung des Sub­jekts in der Mo­der­ne ist, stellt sich jeder ein­di­men­sio­na­len In­ter­pre­ta­ti­on ent­ge­gen. Der Pries­ter im Dom bringt dies auf eine tal­mu­di­sche For­mel, die für (fast) alle Deu­tun­gen des Pro­cess-Frag­ments zu­trifft: „Rich­ti­ges Auf­fas­sen einer Sache und Miss­ver­ste­hen der glei­chen Sache schlie­ßen ein­an­der nicht voll­stän­dig aus“.

Text­aus­ga­ben (Hin­weis: Text­aus­ga­ben sind nur dann im Un­ter­richt ver­wend­bar, wenn sie der Fas­sung der Kri­ti­schen Kafka-Aus­ga­be (Hg. Koch, Neu­mann, Pas­ley,) fol­gen.):

Franz Kafka: Der Pro­cess: Roman. Text­aus­ga­be mit An­hang, An­mer­kun­gen und Nach­wort von Mi­cha­el Mül­ler. Stutt­gart 1998 (Re­clams Uni­ver­sal-Bi­blio­thek)

Franz Kafka: Der Pro­ceß: Roman (Ori­gi­nal­fas­sung),‎ Frank­furt/M., 2011 (Neu­aus­ga­be TB)

Franz Kafka: Der Pro­zeß. Text und Kom­men­tar. Frank­furt/ M. No­vem­ber 2009 (TB SBB 18)

Kafka: „Pro­zess“: Her­un­ter­la­den [pdf][252 KB]