Didaktische Hinweise & Vernetzung
Didaktische Hinweise
Nathan der Weise gehört seit zwei Jahrhunderten zu den kanonischen Werken der Schullektüre. Obwohl Lessings Dramen für ihre poetische Vielschichtigkeit und ihre komplexe Ästhetik bekannt sind, hat man die schulische Rezeption des Nathan die didaktische Reduktion bisweilen bis zur Verkitschung betrieben. So diente Lessing in Theater und Schule vom 19. Jahrhundert bis in die Nachkriegszeit häufig als willkommenes Feigenblatt für die vermeintliche Toleranzkultur einer nicht selten offen antisemitischen Gesellschaft. Kritische Stimmen verweisen darauf, dass die heutige Auseinandersetzung mit dem Drama häufig im Affirmativen verbleibe, weil sich seine Botschaft mühelos in den (nicht selten oberflächlichen) „Toleranz-Zeitgeist“ einbetten lasse (Angelika Overath, 2003). Auf dessen brüchige Oberfläche (z. B. im Hinblick auf antimuslimische Ressentiments) hat Navid Kermani in diesem Zusammenhang hingewiesen hat (Kermani 2003). Eine historisch angemessene und zugleich Lessings Ideendrama würdigende unterrichtliche Auseinandersetzung könnte deswegen in zwei Richtungen zielen: zum einen ließe sich das Stück historisch kontextualisieren und Lessings entschiedenes Eintreten für „Duldung“ auch gegen das universalistische und durch die Staatsmacht gestützte Präeminenzdenken des Christentums seiner Zeit hervorheben; andererseits könnte man die Desillusionierung gegenüber dem aufklärerischen Ideal und der durch Auschwitz obsolet gewordenen Bildungskraft von Literatur und der „Schaubühne als moralische Anstalt“ zum Thema machen. Hierfür bietet es sich an, neben der textimmanenten Erarbeitung des Dramas auch literarische und theatrale Bearbeitungen des Stoffes zum Gegenstand des Unterrichts zu machen. Eine denkbare Diskussionsgrundlage wäre zum Beispiel Claus Peymanns Inszenierung von 1981 am Bochumer Schauspielhaus. In der Schlussszene entfernt sich der Jude Nathan aus der allgemeinen Umarmungsszene und geht auf eine große blutende Dichterfigur zu, die eine Schreibfeder, das Symbol für die Fragwürdigkeit der guten Intention und die Machtlosigkeit von Literatur, in die Höhe hält.
Noch radikaler ist die Bearbeitung des Dramas durch George Tabori (Nathans Tod, zunächst als Drama (1991), dann als Oper mit Musik von Jan Müller-Wieland, 2001). Er porträtiert Nathan nicht als Weisen, sondern als Halbwahnsinnigen, der durch das Pogrom an seiner Familie und den nur durch Glück überstandenen erneuten Anschlag auf sein Haus, bei dem seine Tochter gerade noch gerettet wird, traumatisiert ist. Nathan predigt den Effigien seiner verbrannten Söhne; niemand, auch nicht der Sultan, will ihm zuhören. ( Nathan: Erlaubst du wohl dir/ Ein Geschichtchen zu erzählen? – Saladin: Die Geschichte von den Ringen? – Nathan: Ja – Saladin: Nein – Nathan: Schade). Am Ende verbünden sich dann Christen und Muslime und zünden Nathans Haus an. Nathan kommt ums Leben. Die bittere Regieanweisung zur Szene mit dem Titel „Pogrom“ lautet: Saladin, der Patriarch, die Mönche und Mamelucken feiern mit Champagner ihren kleinen Sieg – Siltah[sic!], abseits. Der Patriarch hebt sein Glas: „Endlich verklingt/ Sein lächerliches Lied/ Das törichte Märchen/ Über irgendwelchen Ring/ Wir werden es nie wieder hören.“)
Als weitere didaktisch lohnende Ansätze lassen sich folgende Aspekte nennen:
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Vergleich der Ringparabel mit Boccaccios Ring-Novelle (vgl. Kepser (2001), 171)
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Vergleich mit der Bearbeitung des Stoffes von Feridun Zaimoglu und Günther Senkel: Nathan Death (2021); im Zentrum steht hier die Frage nach den Argumentationsmustern und Phänotypen des religiösen Fanatismus (antimodernistisches Denken z. B. bei radikalen Baptisten, islamistischen Selbstmordattentätern, jüdischen Siedlern); das Stück ist politisch und historisch voraussetzungsreich und müsste in eine längere Einheit (z. B. in eine Kooperation mit Sozialkunde) eingebettet sein
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Vergleich mit Sophie Tiecks „Flore und Blanscheflur“ (1822), Thematik des Kulturaustauschs, Orientalismus
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Auseinandersetzung mit der Rolle der Religion in der Gesellschaft: Status des Islam; Re-Christianisierung vs. zunehmende Säkularisation; religiöser Fanatismus und dessen politische Instrumentalisierung etc.
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Bedeutung von Literatur als pädagogisches Mittel (vor und nach Auschwitz) zum Beispiel mit vertiefenden Texten von Walter Jens (Möglichkeiten und Grenzen von Literatur (aus ders.: Republikanische Reden)) und Lessing „Theater als moralische Anstalt“)
Vernetzung
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Literatur um 1800, Aufklärung
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G. E. Lessing: Die Juden (1766), Auszüge aus der Hamburgischen Dramaturgie
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Moses Mendelsohn: Über die Frage: was heißt aufklären? (1784)
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George Tabori: Nathans Tod (1991)
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George Tabori/ Jan Müller-Wieland: Nathans Tod , Oper 2001
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Feridun Zaimoglu/ Günther Senkel: Nathan Death. Kiel 2021(Drama; Auftragswerk für das Theater an der Ruhr Mühlheim)
Lessing: „Nathan“: Herunterladen [pdf][245 KB]