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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Literaturhistorisch gesehen schließt Raabes spätrealistischer Roman Stopfkuchen eine wichtige Lücke zwischen der Romantik und der Moderne. Einerseits ist der Roman mit seiner wenig spektakulären Handlung den Traditionen des späten 19. Jahrhunderts verpflichtet; andererseits zeigen die Gestaltung der Hauptfigur, der antikolonialistische Gestus sowie die nicht lineare Erzählweise die Modernität des Romans. Dies wird bereits in der Einleitung deutlich. Der unzuverlässige und schwächliche Ich-Erzähler Eduard setzt seine vermeintlichen Erfolge als Farmer in Südafrika mit dem antiken Schäfer Mopsus gleich. Dieser hatte sein Vermögen durch den Mord an seiner Frau und zwölf Kindern erworben. Dass sich Eduard ausgerechnet auf Mopsus beruft, deutet die latente Gewalt hinter der spießbürgerlichen Fassade des preußischen Provinzstädtchens an; gleichzeitig verweist er auf die Leerstelle des gesamten Romans: die koloniale Unterdrückung und den Landraub durch die Europäer, die Eduards südafrikanische Existenz überhaupt möglich machen. Solche intertextuellen Anspielungen sind eine typische Praxis im Erzählen Raabes. Erst aus der Gegenläufigkeit von Roter Schanze und Südafrika werden die Brüche der Identitätskonzepte der beiden Protagonisten Eduard und Heinrich erkennbar.

Als (vermeintlicher) Held der Geschichte figuriert der „Stopfkuchen“. In Schaumann begegnen die Lesenden dem Nonkonformisten, der sich der Spießbürgerwelt entgegenstellt. Damit wird er jedoch nicht automatisch zur Identifikationsfigur. Vielmehr entzieht sich Schaumann einer Einordnung. In der Zeichnung der Figur dominiert das Heterogene, Uneindeutige, ja Schizophrene. Der Stopfkuchen bleibt über den gesamten Roman kaum greifbar, weil er – wie Ralf Simon im Raabe-Handbuch (s.u.) herausstellt – ein Ensemble theatraler Rollen der kleinstädtischen Sozialisation durchspielt. Sein Repertoire reicht vom idyllischen Bauern bis hin zum Landpfarrer, der sich auf sein (abgebrochenes) Theologiestudium stützt. Schaumann spielt Kriegsherr und Staatsanwalt; er tritt als Historiker und auch als Paläontologe, der angeblich ein (vieldeutig zu verstehendes) Riesenfaultier ausgräbt, auf. Die Verletzungs- und Demütigungserfahrungen seiner Kindheit werden von Schaumann nicht in unmittelbare Rache umgemünzt. Vielmehr nimmt er seine Opferrolle an, indem er den Widerstand gegenüber seinen Peinigern, den Schulkameraden und späteren Spießbürgern, zu denen auch Eduard gehört, körperlich werden lässt. Schaumann, einer der wenigen übergewichtigen Helden in der deutschen Literatur, handelt nach der Maxime „Friß es aus und friß dich durch!“. Ganz nach dem Rezept eines „Stopfkuchens“, eines Auflaufs aus Essensresten, in dem das Nahrhafteste, was von einer Woche übriggeblieben ist, noch einmal zusammengebacken wird, inkorporiert Schaumann das Ungerechte; er sammelt es in seinem Körper und scheidet es sowohl physisch als auch in seinen detailversessenen Monologen wieder aus. Eduard wird wortwörtlich mit Informationen „vollgestopft“.

Raabe stellt dem dicken Deutschen eine koloniale Spiegelfigur gegenüber. Dabei handelt es sich eben nicht um den „Afrikaner“ Eduard, sondern den Zulu-König „Onkel Ketschwayo“, einen 220-Pfund-Mann, der nach den verlorenen Kriegen gegen die Briten, ein bürgerliches Dasein unter britischem Hausarrest geführt hat. Auf diese Weise verklammern sich preußische Provinz und afrikanische Peripherie, Ausgrenzung in der Heimat und Ausbeutung in der Fremde. Als unmittelbarer Zeuge und Aktant dieser Verklammerung fungiert Eduard. Dessen Selbstbild erfährt gegen Ende des Romans eine tiefe Erschütterung, als er versteht, dass sich seine Emigrantenbiografie zu einem erheblichen Teil auf die Flucht- und Verdrängungsphantasie des von seinem schlechten Gewissen geplagten Mörders Störzer zurückführen lässt. Eduard wird im Lauf der Erzählung des direkten Zusammenhangs zwischen Störzers notgedrungenem Schweigen über den Mord und seinem eskapistischen Schwärmen von Afrika gewahr; umgekehrt weiß Eduard aber auch zu genau, warum er gegenüber Stopfkuchen kaum ein Wort über sein Leben am Kap der guten Hoffnung verliert. Schließlich gehört er zu den Profiteuren des burischen Landraubs (durch die Familie seiner Frau) und des Unterdrückungsregimes der britischen Kolonialmacht, die sein „Vermögen“ vor Restitutionsansprüchen der indigenen Bevölkerung abschirmt. Der manische Schreibprozess im Schiffsbauch, in dem sich eine graduelle Verbesserung der erzählerischen Fähigkeiten Eduards erkennen lässt, kann denn auch als ironische Übernahme von Schaumanns Praxis des Aufnehmens und Ausscheidens verstanden werden.

Stopfkuchen lässt sich somit als ironische Auseinandersetzung mit den Abgründen der preußischen Provinz lesen. Raabe kritisiert die kleinstädtische Welt als Scheinidylle, die sich als Brutstätte von Empathielosigkeit und punktuell eruptierender Gewalt demaskiert. Mit Eduard exportiert sie Menschen bis nach Afrika, wo sich die Sozialisation zur Indifferenz im kolonialen Kontext als besonders problematisch erweist, auch wenn dies im Roman selbst unausgesprochen bleibt. Angedeutet wird sie im beredten Schweigen Eduards, aber auch in der Figur Schaumanns, der selbst nicht frei von Rohheit ist. Schaumann ist ein zweifelhafter Held, der sich selbst nicht aus dem gedanklichen Setting von Gewalt und Dominanz zu lösen vermag. Dies zeigt sich einerseits an den Machtspielen gegenüber Eduard, den Stopfkuchen durch das Monologisieren, die inszenierten Essensrituale und Ortswechsel vollständig unterwirft; andererseits in der Rede von der „Eroberung der Schanze“ und der „Domestizierung“ Valentines, der „verwilderten Dorfmieze“. Das liebevoll-neckische Verhältnis der beiden kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Heinrich sich Valentines Dankbarkeit zu Nutze macht und jederzeit Macht über sie ausübt. Fast schon grausam zeigt er sich, als er ihr seine Erkenntnisse über den Mordfall unnötigerweise vorenthält. Der bittere Blick Raabes auf die zeitgenössische Gesellschaft lässt keine ungestörten Beziehungen zu. „Hausrock“, „Pfeife“, und „Strickzeug“ am „Kaffeetisch“ der Schaumanns sind nur Requisiten. Auch Eduards überstürzte Abreise zeugt davon, dass dem Wiedersehen mit dem „Freund“ nicht Versöhnung, sondern Verstörung folgt.

Textausgaben:

Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte. Textausgabe mit Anmerkungen, Worterklärungen, Literaturhinweisen und einem Nachwort von Alexander Ritter, Stuttgart 1986 (= Reclam Universal-Bibliothek 9393)

Wilhelm Raabe: Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte Edition Holzinger. Taschenbuch. Berliner Ausgabe, Berlin 2016

Raabe: „Stopfkuchen“: Herunterladen [pdf][208 KB]