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Di­dak­ti­sche Hin­wei­se & Ver­net­zung

Di­dak­ti­sche Hin­wei­se

Die Werke Wil­helm Raa­bes ge­hö­ren seit den 1980er Jah­ren nicht mehr zum Kanon der Schul­lek­tü­ren. Ma­ri­on Bön­nig­hau­sen hat in ihrer di­dak­ti­schen Ein­füh­rung zu Stopf­ku­chen auf die Schwie­rig­kei­ten der schu­li­schen Re­zep­ti­on hin­ge­wie­sen. Der Roman ent­spricht der heu­ti­gen Le­seer­fah­rung von Schü­ler(innen) nicht mehr und wirkt auf den ers­ten Blick „ver­al­tet“ und „lang­wei­lig“ (ebd., 141). Die Schü­ler(innen) müs­sen des­we­gen da­hin­ge­hend an­ge­lei­tet wer­den, dass sie selbst Bruch­stel­len in der Er­zäh­lung auf­spü­ren kön­nen und so die ver­schie­de­nen Schich­ten des Ro­mans zu er­kun­den in der Lage sind. Im Fokus die­ser Er­kun­dens steht Hein­rich Schau­mann, der „Stopf­ku­chen“. Ge­ra­de im schu­li­schen Kon­text lässt sich an die Figur des über­ge­wich­ti­gen, von allen ge­schmäh­ten Au­ßen­sei­ters leicht an­knüp­fen, auch indem ei­ge­ne Aus­gren­zungs­er­fah­run­gen der Schü­ler(innen) the­ma­ti­siert und re­flek­tiert wer­den. Schau­mann ist je­doch von Raabe tü­ckisch als Figur an­ge­legt, die nicht hält, was sie ver­spricht. Dem kon­ven­tio­nel­len Nar­ra­tiv des ver­lach­ten und ver­kann­ten Schul­ver­sa­gers, der gegen alle Pro­gno­sen im Leben Er­folg hat, ste­hen die lange Mo­no­lo­ge ent­ge­gen, die von Raabe auf einen Pro­zess der Des­il­lu­sio­nie­rung sei­ner Le­ser­schaft hin kon­zi­piert sind. Ein­ge­hend soll­te in einer eng dem Text fol­gen­den Dia­logana­ly­se her­aus­ge­ar­bei­tet wer­den, dass Schau­mann in sei­ner Selbst­in­sze­nie­rung zu­neh­mend ambig und schi­zo­phren er­scheint. Die vie­len Mas­ken, hin­ter denen er sich ver­steckt, ver­mö­gen es nicht, die Ver­let­zun­gen sei­ner Kind­heit ver­ges­sen zu ma­chen.

Eine his­to­ri­sche Kon­textua­li­sie­rung könn­te auch im Hin­blick auf die Buren- und Zu­lu­krie­ge sowie das de­sas­trö­se deut­sche Ko­lo­ni­al­pro­jekt er­fol­gen. In die­sem Zu­sam­men­hang müss­te auch die dis­kri­mi­nie­ren­de Ver­wen­dung der Be­zeich­nung „Kaf­fer(n)“ pro­ble­ma­ti­siert wer­den. Daran wäre die Frage an­zu­schlie­ßen, ob Raa­bes an­ti­ko­lo­nia­lis­ti­sches Buch nicht selbst ko­lo­nia­lis­ti­sche Denk­wei­sen auf­nimmt und pro­du­ziert.

Als wei­te­re di­dak­tisch loh­nen­de Fra­ge­stel­lun­gen las­sen sich fol­gen­de As­pek­te nen­nen:

  • Ver­gleich mit Mi­cha­el Ha­n­ekes preis­ge­krön­tem Schwarz­weiß­film Das weiße Band – Eine deut­sche Kin­der­ge­schich­te (2009); die­ser Film macht die in Stopf­ku­chen nur an­ge­deu­te­te struk­tu­rel­le Ge­walt einer Kind­heit im Kai­ser­reich ex­pli­zit

  • Ver­gleich mit wei­te­ren Wer­ken der Kri­tik an den So­zia­li­sa­ti­ons­prak­ti­ken des Kai­ser­reichs (Fon­ta­ne: Un­term Birn­baum , Haupt­mann: Bahn­wär­ter Thiel)

  • Raa­bes mo­der­ne Er­zähl­wei­se (nicht li­nea­res Er­zäh­len, un­zu­ver­läs­si­ger Er­zäh­ler, Pluri-fo­ka­li­tät, Pro­lep­sen, Analep­sen, Ver­zö­ge­run­gen, Un­ter­bre­chun­gen)

  • Raa­bes Um­gang mit den The­men Ar­chäo­lo­gie und Pa­lä­on­to­lo­gie als Pa­ra­dig­men des Er­zäh­lens

  • Kul­tur­the­ma Essen, Figur des Über­ge­wich­ti­gen in der Li­te­ra­tur

  • in­ter­tex­tu­el­le Re­fe­ren­zen (Münch­hau­sen, Pla­ten, Schlie­mann etc.),

  • Bild­re­zep­ti­on (Ho­garth, Spitz­weg), Text-Bild-Be­zie­hun­gen

  • Mord­ge­schich­te, Kri­mi­nal­ro­man (Be­weis­füh­rung, feh­len­de Zeu­gen, Mo­tiv­su­che)

  • dis­kri­mi­nie­ren­de Macht­struk­tu­ren in der Spra­che (ge­gen­über „Kaf­fern“, Va­len­ti­ne ...)

Ver­net­zung

  • Wen­de­punk­te in der Li­te­ra­tur um 1900

  • Theo­dor Fon­ta­ne: Un­term Birn­baum (1885), Ro­bert Musil: Die Ver­wir­run­gen des Zög­lings Tör­leß (1906)

  • Film: Mi­cha­el Ha­n­eke: Das weiße Band – Eine deut­sche Kin­der­ge­schich­te (2009)

Text­aus­ga­ben:

Wil­helm Raabe: Stopf­ku­chen. Eine See- und Mord­ge­schich­te. Text­aus­ga­be mit An­mer­kun­gen, Wort­er­klä­run­gen, Li­te­ra­tur­hin­wei­sen und einem Nach­wort von Alex­an­der Rit­ter, Stutt­gart 1986 (= Re­clam Uni­ver­sal-Bi­blio­thek 9393)

Wil­helm Raabe: Stopf­ku­chen. Eine See- und Mord­ge­schich­te Edi­ti­on Holzin­ger. Ta­schen­buch. Ber­li­ner Aus­ga­be, Ber­lin 2016

Raabe: „Stopf­ku­chen“: Her­un­ter­la­den [pdf][208 KB]