Didaktische Hinweise & Vernetzung
Didaktische Hinweise
Als literarisches Schlaglicht auf eine historisch überwundene Gesellschaftsformation mit ihren heute fremd wirkenden sozialen Hierarchien, Normen und Haltungen, v.a. aber auch als idealtypisches Beispiel der Innovationskraft der Literatur der Moderne ist ‚Lieutnant Gustl‘ längst im Deutschunterricht der Mittel- und Oberstufe etabliert. Im Fokus des Unterrichts steht dabei neben der Erzähltechnik natürlich die Hauptfigur als Spiegel der damaligen Gesellschaft und als in seiner Fahrigkeit und instabilen Identität zeittypisches modernes Subjekt. Gustl steht auf der niedrigsten Stufe der Offizierskarriere. Das macht seine Position innerhalb der strengen Militärhierarchie so prekär und abhängig vom Wohlwollen der Vorgesetzten. Auf Kritik am Militär reagiert er daher mit einem „Überschuss an Loyalität“ und unbedingter Internalisierung seiner Standesehre. Zivilisten begegnet er mit einem Überlegenheitsgefühl. Besonders angreifbar sind aus dieser Position Frauen und Juden: Frauen erscheinen in seiner Welt als verdinglichte Liebesobjekte, als Waren, über die man verfügen kann, seine aktuelle Affäre Steffi ist bequem, da er sie nur ab und an zum Vergnügen trifft, ohne finanzielle Unannehmlichkeiten zu haben. Prinzipiell sind Frauen für ihn austauschbar, da eine Bindung ohnehin nicht angestrebt wird. Gustls Antisemitismus zeigt sich zum Beispiel, wenn er sich durch die Anwesenheit jüdischer Zuhörer im Konzert gestört fühlt, in Steffis anderem Liebhaber einen Juden vermutet oder sich über Juden beim Militär mokiert. Seine eigene Entwicklung, auf die er immer wieder zurückblickt, ist geprägt durch kränkende und traumatisierende Erfahrungen (Verlassen des Gymnasiums, familiärer Geldmangel, erste sexuelle Akte schambesetzt, Verehrung der Schwester), so dass Triebverdrängung und Kompensationshandeln naheliegen. Im Ganzen demaskiert Schnitzler in Gustl einen „autoritären Charakter“ (Theodor W. Adorno), der Unterwürfigkeit mit Aggression gegen Außenstehende verknüpft. Weitere unterrichtlich relevante Aspekte sind:
-
die Merkmale und Funktionen des inneren Monologs, Formen der Bewusstseinswiedergabe
-
Erzähltechnik als Form impressionistischen Erzählens (auch in Anlehnung an Ernst Mach)
-
die soziale Realität im Spiegel des Textes (Wien um 1900, Militär, Frauenbild, Antisemitismus, Duellwesen aus verletzter Ehre als Männlichkeitsritual)
-
Rezeption / ‚Lieutnant Gustl‘ aus heutiger Sicht
-
Vergleich: ‚Lieutnant Gustl‘ und ‚Fräulein Else‘ – innere und äußere Situation, Geschlechterverhältnisse
-
‚Lieutnant Gustl‘ und die Krise des modernen Subjekts – auch vergleichend (Döblin, Kafka)
Vernetzung
-
Wendepunkte in der Literatur um 1900
-
Vorläufer und Weiterentwicklung des inneren Monologs: Edouard Dujardin ‚Die Lorbeerbäume sind geschnitten‘ (Erzählung, 1880), James Joyce ‚Ulysses‘ (1922) Auszüge
-
Literatur und Psychologie: Hermann Bahr ‚Die neue Psychologie‘ (1890)
-
Verfilmungen:
-
John Olten (nach Motiven der Novelle) A / D 1963
-
Nick Hartnagel D 2021
-
-
Mysogynie: Otto Weininger ‚Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. (1903)
-
Identität und Charakter: Theodor W. Adorno ‚Studien zum autoritären Charakter‘ (1950)
-
Duellwesen: Ute Frevert ‚Ehrenmänner.Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. (1991)
-
Militärgeschichte: William M. Johnson ‚Österreichische Kultur- und Geistesgeschichte. Gesellschaft und Ideen im Donauraum 1848-1938. (1974)
-
Ich-Zerfall und Identitätskrise: Ernst Mach ‚Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen‘ (1886 / 91922). Darmstadt 1991
Schnitzler: „Lieutnant Gustl“: Herunterladen [pdf][170 KB]