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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

W.G. Se­balds Roman Aus­ter­litzwird als be­deu­ten­des Werk der zeit­ge­nös­si­schen Li­te­ra­tur be­trach­tet und hat in der Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft brei­te An­er­ken­nung ge­fun­den.

Der Roman ent­hält zahl­rei­che in­ter­tex­tu­el­le und in­ter­me­dia­le Be­zü­ge auf. Se­bald ver­wen­det Fo­to­gra­fi­en, his­to­ri­sche Do­ku­men­te und li­te­ra­ri­sche Be­zü­ge im Sinne einer ‚Mon­ta­ge­tech­nik‘, um eine kom­ple­xe nar­ra­ti­ve Struk­tur zu schaf­fen. Die­ser An­satz re­prä­sen­tiert post­mo­der­ne Ten­den­zen, die tra­di­tio­nel­le Er­zähl­for­men hin­ter­fra­gen und ver­schie­de­ne Me­di­en mit­ein­an­der ver­we­ben. Es ist somit kein Zu­fall, dass Aus­ter­litz Ar­chi­tek­tur­his­to­ri­ker ist, und der Roman aus­führ­li­che Be­trach­tun­gen über Ar­chi­tek­tur und Raum ent­hält. Diese Re­fle­xio­nen kön­nen als Me­ta­pher für die Suche nach Iden­ti­tät und Ver­ständ­nis die­nen. Die ar­chi­tek­to­ni­schen Ele­men­te kön­nen fer­ner auch als sym­bo­li­sche Struk­tu­ren für die Kon­di­tio­nen der Er­in­ne­rung und des Ver­ges­sens be­trach­tet wer­den. Die hier­aus re­sul­tie­ren­de Er­zähl­struk­tur dient der Re­kon­struk­ti­on des Le­bens­lau­fes. Dass Se­bald auf die Prin­zi­pi­en des Mon­ta­ge­ro­mans re­kur­riert, scheint kein Zu­fall sein, wurde er doch mit einer Ar­beit über Der My­thus der Zer­stö­rung im Werk Dö­blins pro­mo­viert.

Eine be­son­de­re Be­deu­tung im Kon­text der Mon­ta­ge­tech­nik kommt bei Se­bald der Pho­to­gra­phie zu; im Roman heißt es etwa: [Der] Au­gen­blick, in dem man auf dem be­lich­te­ten Pa­pier die Schat­ten der Wirk­lich­keit so­zu­sa­gen aus dem Nichts her­vor­kom­men sieht, genau wie Er­in­ne­run­gen, sagte Aus­ter­litz, die ja auch in­mit­ten der Nacht in uns auf­tau­chen und die sich dem, der sie fest­hal­ten will, so schnell wie­der ver­dun­keln, nicht an­ders als ein pho­to­gra­phi­scher Abzug, den man zu lang im Ent­wick­lungs­bad lie­gen läßt.“ Mit dem „for­schen­den Blick“soll das „Dun­kel“ durch­drun­gen wer­den, so dass das Me­di­um der Pho­to­gra­phie zum Aus­gangs­punkt eines Ima­gi­na­ti­ons­pro­zes­ses wird. Der Er­zäh­ler zeigt sich be­ein­druckt von die­ser Ver­bin­dung der Orte mit der Er­in­ne­rung: „Es war für mich von An­fang er­staun­lich, wie Aus­ter­litz seine Ge­dan­ken beim Reden ver­fer­tig­te, wie er so­zu­sa­gen aus der Zer­streut­heit her­aus die aus­ge­wo­gens­ten Sätze ent­wi­ckeln konn­te, und wie für ihn die er­zäh­le­ri­sche Ver­mitt­lung sei­ner Sach­kennt­nis­se die schritt­wei­se An­nä­he­rung an eine Art Me­ta­phy­sik der Ge­schich­te ge­we­sen ist, in der das Er­in­ner­te noch ein­mal le­ben­dig wurde.“

Der Roman be­han­delt folg­lich das Thema Ge­dächt­nis und Trau­ma in Ver­bin­dung mit den his­to­ri­schen Er­eig­nis­sen des Zwei­ten Welt­kriegs. Aus­ter­litz’ Suche nach sei­ner Ver­gan­gen­heit und die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Schre­cken der Nazi-Herr­schaft spie­geln die Ge­dächt­nis­li­te­ra­tur wider, die sich mit in­di­vi­du­el­len und kol­lek­ti­ven Er­in­ne­run­gen an trau­ma­ti­sche Er­eig­nis­se be­fasst. Die Rei­sen von Aus­ter­litz, so­wohl phy­sisch als auch in der Er­for­schung sei­ner ei­ge­nen Ge­schich­te, kön­nen im Kon­text von Exil und Ent­wur­ze­lung ge­se­hen wer­den, was eine Me­ta­pher für die Brü­che und Dis­lo­ka­tio­nen des 20. Jahr­hun­derts sein könn­te.

Sprach­lich fällt ins­be­son­de­re eine aus­ge­präg­te Form der Hy­po­ta­xe auf. Es fin­den sich Sätze, die über meh­re­re Sei­ten gehen, immer wie­der un­ter­bro­chen wer­den von Ap­po­si­tio­nen und No­mi­nal­grup­pen. Diese Kom­ple­xi­tät wird auch durch die häu­fi­ge Ver­wen­dung der In­quit-For­mel ver­deut­licht.

Se­bald: „Aus­ter­litz“: Her­un­ter­la­den [pdf][204 KB]