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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

In Stif­ters Œuvre stellt Tur­ma­lin eine Be­son­der­heit dar. Nicht die böh­mi­sche Hei­mat, son­dern Wien, die da­mals größ­te deutsch­spra­chi­ge Stadt, dient als Schau­platz der Er­zäh­lung. Stif­ter ver­brach­te fast zwan­zig Jahre sei­nes Le­bens dort. Dabei wurde er un­mit­tel­ba­rer Zeuge der Me­ta­mor­pho­se Wiens von der ver­schla­fe­nen Re­si­denz­stadt zur um­trie­bi­gen Me­tro­po­le des Habs­bur­ger­rei­ches. Die Dar­stel­lung die­ses groß­städ­ti­schen Wan­dels stell­te Stif­ter vor eine fast un­lös­ba­re Her­aus­for­de­rung. Die in der Vor­re­de zu den Bun­ten Stei­nen von ihm selbst pro­pa­gier­te „Ein­fach­heit“ stand im Kon­trast zu dem ge­wähl­ten Sujet, näm­lich der li­te­ra­ri­schen Be­wäl­ti­gung des ur­ba­nen Trei­bens und der Ver­än­de­rung der kom­mu­ni­ka­ti­ven Be­din­gun­gen auf dem Weg zur mo­der­nen Mas­sen­ge­sell­schaft (Grae­ve­nitz 2002). Ent­schei­den­de Im­pul­se für eine Lö­sung des Pro­blems er­fuhr Stif­ter durch Franz Grill­par­zers Wien-No­vel­le Der arme Spiel­mann(1848), die Ger­hard von Grae­ve­nitz zu­fol­ge eine „über­deut­li­che“ Ver­wandt­schaft zu Tur­ma­lin auf­weist (Grae­ve­nitz 2002). Wie zu­fäl­lig grei­fen so­wohl Grill­par­zer als dann auch Stif­ter un­be­deu­ten­de, von der Au­ßen­welt nur wenig be­ach­te­te Epi­so­den aus dem ur­ba­nen Rei­gen auf, um so an­hand von Ein­zel­schick­sa­len die Viel­falt der sich er­eig­nen­den Ge­schich­ten der Groß­stadt sicht­bar zu ma­chen. In ihrem Blick auf die vie­len Fa­cet­ten des Ur­ba­nen spa­ren sie aber auch des­sen Schat­ten­sei­ten wie die die Wohn­si­tua­ti­on des Pre­ka­ri­ats oder die so­zia­len Ver­hält­nis­se der är­me­ren Schich­ten nicht aus. Wo Grill­par­zer und Stif­ter den Fokus auf sol­che Bruch­stel­len der Zi­vi­li­sa­ti­on rich­ten, wer­den diese je­doch ohne Kom­men­tie­rung und mo­ra­li­sche Ap­pel­le dar­ge­stellt. Schon des­we­gen ent­puppt sich ge­ra­de Tur­ma­lin als re­zep­ti­ons­äs­the­ti­sche Her­aus­for­de­rung. Denn die Le­sen­den müs­sen von Be­ginn an knap­pe An­deu­tun­gen zu einem ko­hä­ren­ten Gan­zen zu­sam­men­fü­gen. Dies wird be­son­ders in der no­vel­lis­ti­schen Pe­ri­pe­tie deut­lich. Stif­ter re­du­ziert die Schil­de­rung der Un­treue der Frau sowie die dar­aus fol­gen­de Ka­ta­stro­phe der Fa­mi­lie auf ein fast gro­tes­kes Mi­ni­mum (Je­zio­r­kow­ski 2002). In we­ni­gen Sät­zen wer­den die Af­fä­re zwi­schen Dall und der Gat­tin des Rentherrn, die „au­ßer­or­dent­li­che Wut“ des ge­kränk­ten Ehe­manns sowie die Flucht der Frau er­zählt. Auf diese Weise un­ter­mi­niert Stif­ter die zeit­ge­nös­si­sche Le­seer­war­tung, die eine Auf­klä­rung über die Mo­ti­va­tio­nen im Fi­gu­ren­han­deln sowie eine Lö­sung der vie­len vom Text ge­stell­ten Rät­sel und Leer­stel­len er­for­dert hätte. Wie im Er­öff­nungs­satz an­ge­kün­digt, bleibt die in­ne­re Dis­po­si­ti­on der Prot­ago­nis­ten „sehr dun­kel“. Die Le­sen­den sehen sich vor die Auf­ga­be ge­stellt, die Mo­ti­va­tio­nen des Fi­gu­ren­han­delns und deren mo­ra­li­sche Be­wer­tung aus­schließ­lich aus der er­zäh­le­ri­schen Ak­zen­tu­ie­rung von Ar­chi­tek­tur, den Ku­lis­sen und Aus­staf­fie­run­gen (Ross­ba­cher 1968; Irm­scher 1971) zu re­kon­stru­ie­ren. So wird die Fra­gi­li­tät, aber auch die Be­droh­lich­keit der bie­der­mei­er­li­chen Idyl­le in den Räum­lich­kei­ten am „Sanct Pe­ter­platz“ be­reits in der Ar­chi­tek­tur und den Re­qui­si­ten des Fa­mi­li­en­dra­mas vor­mar­kiert. Ob­wohl die Woh­nung nur aus vier Zim­mern be­steht, fällt jeg­li­che Ori­en­tie­rung schwer. Die ein­zel­nen Räume lie­gen „quer gegen den äu­ße­ren Gang“; die zwei Haupt­zim­mer ver­fü­gen über „Sei­ten­ge­mä­cher“ und sind über einen „klei­nen heim­li­chen Gang“ ver­bun­den; das Vor­zim­mer, in dem sich die Klei­der­käs­ten, aber auch der Ess­be­reich be­fin­den, ist „ziem­lich dun­kel“; Ei­sen­git­ter und -ge­län­der schrän­ken die Be­we­gungs­frei­heit ein. Eine so ver­bau­te Be­hau­sung sa­bo­tiert jeg­li­che Krea­ti­vi­tät und freie Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit. Sie ist äu­ße­res Zei­chen für den ver­stock­ten Di­let­tan­tis­mus des Rentherrn und des­sen aus­sicht­lo­ses Be­mü­hen um eine ge­sell­schaft­li­che Rolle als einer jener Künst­ler, die er von den Roll-Bet­ten so be­wun­dert. Deren Re­üs­sie­ren ba­siert je­doch auf den nicht wei­ter er­läu­ter­ten „un­ge­heu­er­li­chen Be­din­gun­gen“, zu denen der Rentherr kei­nen Zu­gang hat. Als un­er­war­tet die Ka­ta­stro­phe in die fa­den­schei­ni­ge Idyl­le ein­bricht, folgt den bür­ger­li­chen Höhen ein wah­rer Höl­len­sturz. Nach dem Un­treue­ge­ständ­nis und dem mit die­sem ver­bun­de­nen Sui­zid der Ehe­frau ver­lie­ren Vater und Toch­ter jeg­li­chen Halt. In Wien wird spä­ter kol­por­tiert, dass der Ab­sturz so dra­ma­tisch ge­we­sen sein muss, dass die bei­den in den Fol­ge­jah­ren eine jäm­mer­li­che Exis­tenz in einer ent­le­ge­nen Wald­höh­le füh­ren müs­sen. Als sie die Kraft fin­den, in die Hei­mat zu­rück­zu­keh­ren, wäh­len sie eine Blei­be weit ent­fernt vom Zen­trum. Sie be­woh­nen eine schwer zu­gäng­li­che, nur durch eine „Trep­pe in die Tiefe er­reich­ba­re“ Kel­ler­woh­nung, deren „Fens­ter ge­wöhn­lich dicht an dem Pflas­ter der Stra­ßen her­aus[gin­gen]“. Die­ser dys­to­pi­sche Wohn­ort, ein Zwi­schen­ort zwi­schen vier­tem Stock und Höhle, zwi­schen Zen­trum und Wald, ge­hört zum „sehr alte[n]“ Per­ron’schen Her­ren­haus, das schwarz aus[sieht], und [...] Ver­zie­run­gen aus sehr alten Zei­ten [hat]“. In der For­schung wurde dies als Re­fe­renz auf den ti­tel­ge­ben­den Tur­ma­lin, ein durch star­ke Farb­sät­ti­gung schwarz er­schei­nen­des Quarz­mi­ne­ral (Schörl), das häu­fig mit klei­nen Berg­kris­tal­len oder Mus­ko­vit-Si­li­ka­ten „ver­ziert“ ist, ge­se­hen. Auch auf der Er­zähl­ebe­ne hat man Be­zü­ge zum schwar­zen Kris­tall her­ge­stellt. So kor­re­spon­diert die zeit­ge­nös­si­sche Ver­wen­dung des Tur­ma­lins zur Licht­po­la­ri­sa­ti­on sowie des­sen Ei­gen­schaft zu pie­zo­elek­tri­schen Re­ak­tio­nen mit den Hell-Dun­kel-Kon­tras­ten der Er­zäh­lung (z. B. Kel­ler­woh­nung vs. Haus der Gön­ne­rin), aber auch mit der phy­si­schen De­for­ma­ti­on des Mäd­chens in der Druck­si­tua­ti­on der vä­ter­li­chen Ge­fan­gen­schaft (Mül­ler 1968).

Erst nach dem Un­fall­tod des Rentherrn kann das Pro­jekt der Hei­lung und Re­inte­gra­ti­on des ver­wahr­los­ten Kin­des in die Ge­sell­schaft auf­ge­nom­men wer­den. Stif­ter si­tu­iert es in einer Kon­stel­la­ti­on, in der die Ur­ka­ta­stro­phe erst ge­spie­gelt (Ge­u­len 1993) und dann über­schrie­ben wird. So fin­det die Trias aus Vater, Mut­ter und Dall ihre Ent­spre­chung in der hel­fen­den Nach­ba­rin, ihrem Mann und dem Haus­freund Pro­fes­sor An­dorf. Die­ser ist wie der Rentherr ein Di­let­tant, der an allen Küns­ten In­ter­es­se zeigt, aber weder ta­len­tiert noch pro­duk­tiv ist. Ohne maß­geb­lich in die Ge­schich­te in­vol­viert zu sein, spie­gelt sich in An­dorf, dem letz­ten bür­ger­li­chen Be­woh­ner des Per­ron’schen Hau­ses, die bie­der­mei­er­li­che Ver­gan­gen­heit des Rentherrn vor der Fa­mi­li­en­ka­ta­stro­phe. Als stum­mer Zeuge des „Ver­sin­ken[s], Ver­ge­hen[s], Ver­kom­men[s]“ bleibt er stets prä­sent, hat aber im Ge­gen­satz zu den Ak­ti­vi­tä­ten des wohl­tä­ti­gen Ehe­paars zu den the­ra­peu­ti­schen Be­mü­hun­gen um das Mäd­chen nichts bei­zu­tra­gen. Wäh­rend der Mann der Er­zäh­le­rin, selbst ein Be­am­ter, im Kampf mit der Bü­ro­kra­tie die An­sprü­che des Mäd­chens auf das Erbe durch­zu­set­zen ver­sucht und aus ju­ris­ti­schen Grün­den des­sen Vor­mund wird, nä­hert sich seine Frau dem Kind in päd­ago­gisch-the­ra­peu­ti­scher Ab­sicht. Zu­nächst steht sie vor der Auf­ga­be, des­sen sprach­li­che De­vi­anz über­win­den, die von Stif­ter mit der Be­zug­nah­me auf die zer­stör­te Rentherrn-Fa­mi­lie gleich in drei­fa­cher Hin­sicht pro­non­ciert wird. Da ist ers­tens die „ kaum (sic!) men­schen­ähn­li­che“ Laute pro­du­zie­ren­de „Dohle“, mit der sich das Mäd­chen in ei­ge­nen Tönen ver­stän­digt und deren Platz auf einem „Schir­me am Bett des Mäd­chens“ als Hin­weis auf die tote „Raben“-Mut­ter ver­stan­den wer­den kann; da ist zwei­tens die auf dem Tisch lie­gen­den Flöte, mit wel­cher der Vater in der Zeit der Not durch sein „selt­sa­mes“ Mu­si­zie­ren den Un­ter­halt der bei­den er­bet­telt hat und die nach des­sen Tod von der Toch­ter glei­cher­ma­ßen dis­so­nant ge­spielt wird; da sind drit­tens die wegen der Miss­bil­dun­gen schwer de­chif­frier­ba­ren „Züge“ des Mäd­chens sowie des­sen un­ver­ständ­li­che münd­li­che und schrift­li­che Äu­ße­run­gen, die zwang­haft auf den Sui­zid der Mut­ter und der Tod Va­ters be­zo­gen sind (vgl. Schif­fer­mül­ler 1996).

Die ver­such­te The­ra­pie ist für die Mitte des 19. Jahr­hun­derts, das noch unter dem Ein­druck der psy­cho­lo­gi­schen De­bat­ten und Hei­lungs­ex­pe­ri­men­te um den Fall Kas­par Hau­ser stand, glei­cher­ma­ßen pro­gres­siv wie kon­ven­tio­nell. Im Ein­klang mit den pro­gram­ma­ti­schen Ideen des Sanf­ten Ge­set­zes, das Stif­ter zu Be­ginn der Bun­ten Stei­ne for­mu­liert, soll „der ent­zün­de­te Geist“ des Mäd­chens, „der nach Tä­tig­keit strebt, um­reißt, än­dert, zer­stört und in der Er­re­gung oft das ei­ge­ne Leben hin­wirft“ an „Ge­rech­tig­keit“, „Ein­fach­heit“, „Be­zwin­gung sei­ner Selbst“ und „Ver­stan­des­mä­ßig­keit“ ge­wöhnt wer­den. Zu­nächst wird das Ver­trau­en des Mäd­chens durch die Be­reit­stel­lung von Essen und Woh­nung ge­won­nen, bevor dann eine psy­cho­so­ma­ti­sche Hei­lung über Jod­bä­der und Kuren, aber auch über ein So­zia­li­sa­ti­ons­pro­gramm aus maß­vol­lem in­tel­lek­tu­el­len Sti­mu­lus, ein­fa­chen Ge­sprä­chen und Hand­ar­beit er­zielt wer­den soll. Das leid­li­che Ge­lin­gen die­ser lang­wie­ri­gen Maß­nah­men er­mög­licht es der in­zwi­schen zur jun­gen Frau her­an­ge­wach­se­nen Toch­ter des Rentherrn ein über­wie­gend selbst­stän­di­ges Leben zu füh­ren, auch wenn die psy­chi­schen und phy­si­schen Fol­gen des Hos­pi­ta­lis­mus nie ganz über­wun­den wer­den. Die Ge­schich­te endet mit der nur ver­meint­lich sim­plen Ak­zen­tu­ie­rung der Ver­gäng­lich­keit von Men­schen und Ge­bäu­den im dau­ern­den Wan­del der Groß­stadt. Hin­ter der la­ko­ni­schen Be­mer­kung, dass der „große Künst­ler“ Dall wie auch Pro­fes­sor An­dorf, die Spie­gel­fi­gur des Rentherrn mit­samt der Ku­lis­se des Per­ron’schen Her­ren­hau­ses dem Ver­ges­sen an­heim­fal­len, ver­birgt sich je­doch eine prä­zi­se Ge­gen­warts­dia­gno­se. Stif­ter kri­ti­siert die „un­durch­dring­li­chen Zei­chen­sys­te­me“ der Kul­tur, in denen sich das mo­der­ne Sub­jekt nicht mehr zu­recht­fin­det (Grae­ve­nitz 2002). Die re­fe­renz­lo­se Spra­che des Mäd­chens und das un­mu­si­ka­li­sche Flö­ten­spiel des Rentherrn, aber auch Dalls rol­len­lo­se Schau­spie­le­rei sind Sym­pto­me einer Über­for­de­rung. Man kann Tur­ma­lin mit sei­ner Poe­tik des La­ko­ni­schen, der Aus­spa­rung von De­tail­lie­rung bis hin zur Ab­we­sen­heit von Be­deu­tung als Ver­such Stif­ters lesen, sich gegen den ro­man­ti­schen Sub­jek­ti­vis­mus, ge­wis­ser­ma­ßen als „letz­ten Damm­bau vor der Psy­cho­ana­ly­se“ (Es­sel­born 1985), zu stel­len.

Text­aus­ga­ben:

Adal­bert Stif­ter: Tur­ma­lin. Wei­tra (A) 1996 (Bi­blio­thek der Pro­vinz, Bd. 1)

Adal­bert Stif­ter: Bunte Stei­ne. Stutt­gart 1994

Stif­ter: Bunte Stei­ne II (Spre­cher: Heiko Ru­precht, MP3-Down­load), Stutt­gart 2018

Stif­ter: „Tur­ma­lin“: Her­un­ter­la­den [pdf][224 KB]