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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

Li­te­ra­tur­ge­schicht­lich be­trach­tet knüpft We­de­kinds ers­tes be­deu­ten­des Stück (zu­gleich sein ers­tes ge­druck­tes Buch) the­ma­tisch an das Ethos der Re­vo­lu­tio­nä­re des Sturm und Drang an. Die freie Ent­fal­tung der na­tür­li­chen Le­bens­kräf­te, für die sich der an­ti­bür­ger­li­che Le­bens­re­for­mer We­de­kind ein­setzt, stößt auch im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert auf eine bür­ger­li­che Moral, die jede freie­re Le­bens­äu­ße­rung im Keim er­stickt. So er­klärt sich die schar­fe Kri­tik, die Früh­lings Er­wa­chen an die­ser bür­ger­li­chen Ord­nung und an deren Er­zie­hungs­an­stal­ten als in­sti­tu­tio­nel­len Nor­mie­rungs­or­ga­nen übt. We­de­kinds Apo­lo­gie des Eros und des­sen Recht auf na­tür­li­che Ent­fal­tung wirkt von sei­nem ers­ten Stück aus­ge­hend in vie­len wei­te­ren sei­ner Dra­men fort und steht im Kon­text eines zu die­ser Zeit wach­sen­den In­ter­es­ses der Li­te­ra­ten an Fra­gen des Sexus und Eros, an den ge­schlecht­li­chen Be­zie­hun­gen und den darin wirk­sa­men Trieb­kräf­ten (vgl. Hein­rich und Tho­mas Mann, Schnitz­ler, Musil, Broch, Brecht, Benn etc.). Äs­the­tisch grenzt sich We­de­kinds ‚Kin­der­tra­gö­die‘ (die ei­gent­lich eine Tra­gö­die der Ado­les­zenz ist) de­zi­diert von den Mi­lieu­schil­de­run­gen und akri­bi­schen De­skrip­tio­nen des Na­tu­ra­lis­mus ab. „Wenn sich der Na­tu­ra­lis­mus über­lebt hat, dann wer­den seine Ver­tre­ter ihr Brot als Ge­heim­po­li­zis­ten fin­den“, so We­de­kind spöt­tisch. Als zen­tra­le Merk­ma­le in Früh­lings Er­wa­chen las­sen sich sze­ni­sche Ver­knap­pung, Dia­lo­göko­no­mie, funk­tio­na­le Re­duk­ti­on der Hand­lungs­or­te, sa­ti­ri­sche Dar­stel­lun­gen, ex­pres­si­ve und ver­frem­den­de Stil­ele­men­te, Rea­li­täts­sprün­ge, al­le­go­risch über­form­te Fi­gu­ren­ge­stal­tung etc. iden­ti­fi­zie­ren. Sie wei­sen auf die für Lenz, Grab­be oder Büch­ner cha­rak­te­ris­ti­schen Frei­hei­ten in der Ge­stal­tung zu­rück und be­rei­ten zu­gleich das ex­pres­sio­nis­ti­sche Drama (v.a. Stern­heim, jun­ger Brecht) vor. Be­son­ders evi­dent sind die struk­tu­rel­len An­lei­hen von Früh­lings Er­wa­chen bei Büch­ners Dra­men­frag­ment Woyzeck: Wie Büch­ner geht es We­de­kind we­ni­ger um In­di­vi­du­en, son­dern eher um die Ge­sell­schaft als Gan­zes. In einer Folge von eher lo­cker ver­knüpf­ten Sze­nen wird das Bild eines Un­ter­drü­ckungs­sze­na­ri­ums ge­zeich­net, das re­prä­sen­ta­ti­ve Ein­zel­ne auf je­weils ver­schie­de­ne Weise zu Op­fern macht und so des­sen le­bens­feind­li­che Prä­gung of­fen­legt. Die Logik der Sze­nen­ver­knüp­fung folgt eher dem Prin­zip der the­ma­ti­schen Kop­pe­lung, wobei zeit­li­che Pro­gres­si­ons­li­ni­en eher vage blei­ben (spär­li­che Zeit­an­ga­ben deu­ten auf einen Hand­lungs­zeit­raum zwi­schen Früh­jahr und No­vem­ber). Hand­lungs­li­ni­en la­gern sich an die drei Haupt­fi­gu­ren an (Wend­la: Un­auf­ge­klärt­heit → Opf­er­de­n­ken → Ver­ge­wal­ti­gung → Schwan­ger­schaft/Tod; Mo­ritz: hoher Leis­tungs­druck → Flucht­plan/Bitt­brief → Un­fä­hig­keit zum Le­bens­ge­nuss → Sui­zid; Mel­chi­or: freie Ent­fal­tung/Auf­ge­klärt­heit → „Der Bei­schlaf“ → Ver­ge­wal­ti­gung Wend­las → Kor­rek­ti­ons­an­stalt/Schuld­be­kennt­nis → Ret­tung vor Sui­zid durch ver­mumm­ten Herrn) und über­schnei­den sich an ent­schei­den­den Stel­len. Eine wei­te­re Par­al­le­le zu Woyzeck ist die gro­tes­ke, ma­rio­net­ten­haf­te Dar­stel­lung der Au­to­ri­tä­ten. Wie in der Dar­stel­lung von Dok­tor und Haupt­mann im Woyzeck do­mi­nie­ren in We­de­kinds Drama ka­ri­ka­tures­ke Züge in der Zeich­nung der Leh­rer­schaft. Die schar­fe Kri­tik des Stücks an der ver­lo­ge­nen bür­ger­li­chen Ge­sell­schaft und ihrem un­mensch­li­chen Er­zie­hungs­sys­tem be­ruht auf ei­ge­nen Er­fah­run­gen und per­sön­li­chen Er­leb­nis­sen We­de­kinds aus sei­ner Aarau­er Gym­na­si­al­zeit (Selbst­mord eines Mit­schü­lers, Ent­las­sung eines an­de­ren wegen un­dis­zi­pli­nier­ten Ver­hal­tens, Frei­tod des Schul­freun­des Mo­ritz Dürr) und hat eine di­dak­tisch-re­for­ma­ti­ve Stoß­rich­tung (vgl. Brief We­de­kinds vom 5.12.1891). Um den de­struk­ti­ven ge­sell­schaft­li­chen Zwang, der sich in der Ge­walt der Er­wach­se­nen (El­tern/Leh­rer) über die kind­lich-un­schul­di­ge Natur der Ju­gend re­pro­du­ziert, wir­kungs­voll her­aus­zu­ar­bei­ten, ver­wen­det We­de­kind durch­ge­hend an­ti­t­he­ti­sche Grund­struk­tu­ren: Der Welt der norm­fi­xier­ten, prü­den Er­wach­se­nen steht die Grup­pe der nai­ven, trieb­haft pu­ber­tie­ren­den Ju­gend­li­chen ge­gen­über; in­ner­halb der ein­zel­nen Grup­pen las­sen sich wei­te­re Ge­gen­über­stel­lun­gen er­ken­nen (Jun­gen vs. Mäd­chen, Fr. Berg­mann vs. Fr. Gabor, Mel­chi­or vs. Mo­ritz, Ilse vs. Wend­la), in denen spe­zi­fi­sche Pro­ble­me, Ein­stel­lun­gen und Kon­zep­te kon­tras­tiert wer­den. Auch ein­zel­ne Sze­nen ge­win­nen in der Kon­tras­tie­rung mit an­de­ren an Be­deu­tung; zum Bei­spiel:

  • „Auf­klä­rungs­sze­nen“ (I, 1 / II, 2) vs. Heu­bo­den­sze­ne (II, 4) → Re­ge­lungs­ver­such vs. Re­gel­bruch, Auf­klä­rungs­ver­wei­ge­rung als Fak­tor, der dazu bei­trägt, dass die ah­nungs­lo­se Wend­la zum Ver­ge­wal­ti­gungs­op­fer wird

  • Mo­ritz und Ilse (II, 7) → schei­tern­de Ret­tung ins Leben vs. Mel­choir und ver­mumm­ter Herr (III, 7) → ge­lin­gen­de Ret­tung ins Leben

  • Mo­ritz vor dem Sui­zid (II, 7) → In­nen­sicht vs. Mo­ritz‘ Be­er­di­gung (III, 2) → Au­ßen­sicht, fi­na­le Ver­ur­tei­lung

Die dia­lo­gi­sche Ge­stal­tung der Sze­nen, in denen Ju­gend­li­che mit Er­wach­se­nen kom­mu­ni­zie­ren, zeigt, dass keine Mög­lich­keit des kom­mu­ni­ka­ti­ven Aus­tauschs zwi­schen bei­den Grup­pen be­steht: Wend­la und ihre Mut­ter reden an­ein­an­der vor­bei, letz­te­re re­agiert auf sie über­for­dern­de The­men aus­wei­chend bis hilf­los und ver­wei­gert in ver­ant­wor­tungs­lo­ser Weise das of­fe­ne Ge­spräch. Frau Gabor in­sze­niert sich als li­be­ral und weist ihrem Sohn zu früh zu viel Ei­gen­ver­ant­wor­tung zu, setzt ihn je­doch durch eine klare Er­war­tungs­hal­tung unter Druck (vgl. II,1), an­statt durch of­fe­ne Er­zie­hungs­ge­sprä­che klare Leit­li­ni­en zu set­zen. Als Mel­chi­or ohne in­ne­res Kor­rek­tiv zum Ver­ge­wal­ti­ger wird, sit­zen die El­tern Gabor über ihren Sohn zu Ge­richt, ohne das Ge­spräch mit ihm zu su­chen; Mo­ritz ge­gen­über heu­cheln sie Em­pa­thie, ohne dass sie je­doch ech­tes Ver­ständ­nis für seine Not­la­ge auf­brin­gen und wei­sen seine Bitte wort­reich ab. Die Leh­rer agie­ren als see­len­lo­se Agen­ten einer ge­sell­schaft­li­chen Nor­mie­rungs­an­stalt und stel­len Mel­chi­or schließ­lich an den Pran­ger, ohne ihn an­zu­hö­ren; ihr Ur­teil steht im Vor­aus fest, das mo­no­lo­gi­sche Ver­hör gleicht einer Ur­teils­ver­kün­dung. Die Dia­lo­ge der Ju­gend­li­chen un­ter­ein­an­der sind da­ge­gen durch Of­fen­heit, Ein­fach­heit im Aus­druck und Di­rekt­heit in der Sache ge­kenn­zeich­net, wenn­gleich auch hier der kom­mu­ni­ka­ti­ve Aus­tausch durch mo­no­lo­gi­sche Züge bis­wei­len ge­stört ist. Im Ge­spräch zwi­schen Mo­ritz und Mel­chi­or (I, 2) wird deut­lich, dass beide im dia­lo­gi­schen Hin und Her doch über ver­schie­de­ne Dinge reden. Wäh­rend Mo­ritz über seine exis­ten­zi­el­len Sor­gen spricht (Sit­zen­blei­ben, Ver­sa­gens­ängs­te, dro­hen­de Ent­täu­schun­gen), er­geht sich Mel­chi­or in tief­sin­ni­gen Ge­dan­ken über die Sinn­haf­tig­keit des Da­seins. Die Re­de­par­ti­en grei­fen nicht in­ein­an­der, jeder geht sei­nen ei­ge­nen Ge­dan­ken nach, ohne auf den an­de­ren ein­zu­ge­hen. Die „Ju­gend“ er­weist sich als Kol­lek­tiv bzw. in ihrer Re­prä­sen­ta­ti­on des Eros kei­nes­wegs als ho­mo­gen, son­dern kon­sti­tu­iert sich aus ver­ein­sam­ten Ein­zel­nen. Im Ge­gen­satz zu den Er­wach­se­nen haben die drei ju­gend­li­chen Haupt­fi­gu­ren wich­ti­ge Mo­no­lo­ge, in denen sich ihr See­len­le­ben ar­ti­ku­liert. Dies sowie die ‚mo­no­lo­gi­schen Dia­lo­ge‘ ver­wei­sen auf die Iso­liert­heit der Kin­der, die nir­gend­wo die nö­ti­ge Un­ter­stüt­zung fin­den. Die Schluss­sze­ne des Stücks durch­bricht die Il­lu­si­on eines ein­heit­li­chen rea­lis­ti­schen Hand­lungs­raums und er­gänzt die Er­eig­nis­ebe­ne um eine al­le­go­ri­sche Be­deu­tungs­schicht. So re­prä­sen­tiert Mo­ritz mit dem Kopf unter dem Arm den Tod; ihm steht der ver­mumm­te Herr als Ver­füh­rer zum Leben ge­gen­über. Letz­te­rer ist nach dem Vor­bild des Me­phis­to­phe­les ge­stal­tet, der in der Pakt-Szene Faust ins Leben zu füh­ren ver­spricht. Die welt­män­ni­sche Klei­dung des ver­mumm­ten Herrn sowie seine all­ge­mei­nen Ver­spre­chun­gen kor­re­spon­die­ren im We­sent­li­chen mit Me­phis­tos Er­schei­nungs­bild. Er be­herrscht von An­fang an die Szene, ent­larvt Mo­ritz’ Er­ha­ben­heits­ge­re­de als Schar­la­ta­ne­rie und ret­tet Mel­chi­or vor dem Tod. (We­de­kind spiel­te die Figur gerne selbst auf der Bühne, was deren Sprach­rohr­cha­rak­ter un­ter­streicht.) Die Par­al­le­li­tät der Fi­gu­ren birgt je­doch auch eine nicht zu ver­nach­läs­si­gen­de Am­bi­va­lenz: Wie bei Faust das Ver­trau­en in die Er­fül­lungs­kraft des Le­bens mit der Ver­wick­lung in schuld­haf­tes Ver­hal­ten schwin­det, so tra­gen auch in Früh­lings Er­wa­chen die Ver­hei­ßun­gen des Le­bens­ge­nus­ses dia­bo­li­sche Züge. Auch Mel­chi­or hat mit der Ver­ge­wal­ti­gung Wend­las große Schuld auf sich ge­la­den und ist mit­ver­ant­wort­lich für ihren Tod. Diese Am­bi­va­lenz ist bei der vi­ta­lis­ti­schen Ge­samt­bot­schaft des Stücks stets mit­zu­den­ken. Sie ist nicht zu tren­nen von der fun­da­men­ta­len Ge­sell­schafts­kri­tik des Tex­tes, der auf­zeigt, dass die re­pres­si­ven in­sti­tu­tio­na­li­sie­ren und in­ter­na­li­sier­ten Mo­ral­ko­des in allen Be­tei­lig­ten wirk­sam sind und quasi als an­ony­me Macht ihre mör­de­ri­sche Kraft ent­fal­ten.

Text­aus­ga­ben:

Text­aus­ga­be mit An­mer­kun­gen/Wort­er­klä­run­gen und Nach­wort, Anm. von Hans Wa­ge­ner, Nach­wort von Georg Hen­sel, Stutt­gart 2021

Text­aus­ga­be mit Kom­men­tar/Ma­te­ria­li­en, hrsg. von Thors­ten Krau­se, Stutt­gart 2021

Text­aus­ga­be mit Kom­men­tar von Hans­ge­org Schmidt-Berg­mann. Frank­furt/M. 2002

Di­gi­ta­le Text­aus­ga­be (Pro­jekt Gu­ten­berg): Pro­jekt Gu­ten­berg

We­de­kind: „Früh­lings Er­wa­chen“: Her­un­ter­la­den [pdf][219 KB]