Didaktische Hinweise & Vernetzung
Didaktische Hinweise
Wedekinds Tragödie ist einerseits durch ihre Figuren sowie die verhandelte Thematik (Erwachsen werden, beginnende Sexualität, ungewollte Schwangerschaft bei Minderjährigen, schulischer Leistungsdruck, Erwartungshaltungen der Eltern, Erziehungsstile etc.) nah am Erfahrungshorizont heutiger Jugendlicher, andererseits aufgrund der großen historischen Distanz von über 130 Jahren und der damit einher gehenden Differenz der gesellschaftlichen Verhältnisse auch von sozial- und mentalitätsgeschichtlicher Relevanz. Die Probleme, vor die sich Wendla, Moritz und Melchior gestellt sehen, haben in der liberalen, aufgeklärten und demokratischen Gesellschaft von heute tendenziell an Schärfe verloren, auch wenn sie immer wieder in Erscheinung treten und großes Leid verursachen. Dessen ungeachtet entwirft das Stück eine geschlossene dramatische Welt, die in sich stimmig ist und „aus sich selbst leben kann, wenn sie auch außerhalb des Theaters vergangen ist“ (Heusel 1990). Aufgrund der auf viele heutige Jugendliche befremdlich wirkenden bürgerlichen Moralvorstellungen und kaum mehr nachvollziehbaren Haltungen, empfiehlt es sich, die Schülerinnen und Schüler nicht unvorbereitet mit der Lektüre zu konfrontieren. Zur Hinführung können Recherche-Aufträge zur bürgerlichen Gesellschaft im späten 19. Jahrhundert erteilt und die Ergebnisse zusammengefasst dargestellt werden (der Einsatz von Tools wie Chat GPT o.ä. könnte sich hierbei anbieten). Ebenfalls hilfreich könnte eine gemeinsame Annäherung an das Thema ‚Jugend um 1900‘ sein; anhand von repräsentativen Auszügen aus bekannten Schulromanen bzw. -erzählungen (R. M. Rilke ‚Die Turnstunde‘ [1902], Robert Walser ‚Jakob v. Gunten‘ [1909], R. Musil ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ [1906], H. Hesse ‚Unterm Rad‘ [1906]) könnten erste Eindrücke über damalige Verhältnisse, Konflikte und Probleme gewonnen und mit heutigen abgeglichen werden. Eine weitere (auch mit anderen kombinierbare) Möglichkeit der Hinführung wäre die gemeinsame Lektüre einer einschlägigen Textstelle aus Frühlings Erwachen, die die Schülerinnen und Schüler mit der für heutige Leserinnen und Leser ggf. ungewöhnlich klingenden Sprache sowie mit ersten thematischen Aspekten bekannt machen könnte, z.B. die Szenen I, 1 oder I, 2). Diese Formen der Lektürevorentlastung bzw. Einstimmung auf das selbständige Lesen können dazu beitragen, schülerseitige Aversionsaffekte im Hinblick auf die als ‚uncool‘ empfundenen Dialoginhalte und deren sprachliche Gestalt zu verhindern. Auf der Basis des so generierten Vorwissens, kann eine eigenständige Lektüre, ggf. flankiert durch Beobachtungsaufträge, eine sinnvolle Erstbegegnung darstellen. Im Zuge der unterrichtlichen Behandlung können folgende Aspekte didaktisch relevant sein:
-
Antithetik der Figurenkonstellation
-
Analyse der Figuren: Problemdiagnosen und Symbolik
-
Darstellung der an die Hauptfiguren gekoppelten Handlungsstränge
-
Aspekte der Gesellschaftskritik in Szenenanalysen
-
Eltern: Fr. Bergmann / Fr. Gabor
-
Lehrer: Konferenzsatire
-
Kirche: Beerdigungsszene / Pastor Kahlbauch
-
-
Dialoganalysen: Formen der Kommunikationsverweigerung, der Verständnisarmut
-
Fr. Bergmann – Wendla
-
Fr. Gabor – Moritz / Melchior
-
Rektor Sonnenstich – Melchior
-
Melchior – Moritz
-
-
Monologanalysen: Monologe als Formen der Selbstkundgabe
-
Hänschen Rilow (II, 3) – auch: Kritik an der bürgerlichen Doppelmoral
-
Wendla Bergmann (II, 6)
-
Moritz Stiefel (II, 7)
-
-
Literarische Erörterungen:
-
Die Schuld der Mütter am Schicksal ihrer Kinder: Fr. Bergmann / Fr. Gabor
-
Melchior Gabor – moderner Freigeist vs. verantwortungsloser Hedonist
-
-
Homoerotik als alternatives Lebenskonzept: Ernst Röbel und Hänschen Rilow (III, 6)
-
der vermummte Herr und Goethes Mephisto: Vergleich der Figuren und Konstellation, Deutung des intertextuellen Bezugs (III, 7)
-
kulturhistorischer Vergleich: ungewollte Schwangerschaft bei Jugendlichen früher (am Beispiel Wendla Bergmanns) und heute
Vernetzung
-
Bürgerliche Moral, Erziehungs- und Gesellschaftskritik um 1900
-
Erzählungen zum Thema Schule: R. M. Rilke ‚Die Turnstunde‘ [1902] / Robert Walser ‚Jakob v. Gunten‘ [1909] / R. Musil ‚Die Verwirrungen des Zöglings Törleß‘ [1906] / H. Hesse ‚Unterm Rad‘ [1906]
Wedekind: „Frühlings Erwachen“: Herunterladen [pdf][219 KB]