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Sachanalyse

‚Auschwitz‘ steht als Chiffre für das Menschheitsverbrechen des 20. Jahrhunderts, steht für Leiden und Sterben der 6 Millionen Juden in den Konzentrationslagern infolge der Verfolgungs- und Vernichtungspolitik der NS-Diktatur in Europa. Aus jüdischer Sicht stellt(e) sich angesichts von Verfolgung und Holocaust die Frage, warum Gott ‚sein Volk‘ im Stich gelassen und das Leid nicht verhindert hat. Das Verhältnis des jüdischen Volkes zu Gott ist damit in Frage gestellt, aber auch die Legitimität des Gottesglaubens selbst: „Hat Gott in der Shoah sein Angesicht von Israel abgewandt […]? Kann und muss Auschwitz als Gegenoffenbarung zur Selbstkundgabe am brennenden Dornbusch verstanden und damit als Offenbarung des Todes Gottes gedeutet werden?“1

Die Verbindung der Wörter „Ausschwitz“ und „Gott“ hinterlässt folglich nur eine schreiende Dissonanz. Damit wird die Theodizee-Frage erneut und noch eindringlicher gestellt, was zu tiefgreifenden dogmatischen Verschiebungen im Gottesbild der jüdischen und christlichen Theologien geführt hat. Das Knirschen im Gebälk traditioneller Gottesvorstellungen sowie die innertheologischen Umbaumaßnahmen hin zu einem verändertem Gottesbild sichtbar zu machen, das ‚Auschwitz‘ als Phänomen integriert, steht im Zentrum dieser Unterrichtssequenz.

Es erstaunt auf den ersten Blick, dass viele Juden, die in Auschwitz gelitten haben und gestorben sind, als auch solche, die den Holocaust überlebt haben, tief religiös waren und ihre Religiosität auch in den Lagern praktiziert haben.2 ‚Auschwitz‘ führt also nicht nur zum Theodizee-Problem und zur Einsicht, dass der Himmel leer ist, sondern bemerkenswerterweise auch zu einer Rückbesinnung auf den Glauben, der wie bspw. eine Holocaust-Überlebende es formuliert, als „moralische[r] Kompass“3 angesehen wird oder als Möglichkeit, die unabweisbaren Fakten des Holocausts zu akzeptieren bzw. das Chaos der Zeitläufte überhaupt in ein konsistentes Bild zu bringen. Dementsprechend löst die Chiffre ‚Auschwitz‘ nicht nur eine erneute Welle an Religionskritik aus, sondern auf der Gegenseite eine funktionalistische Verteidigung der Religion4 im Denken nach 1945, die sich bspw. in den Ansätzen Erich Fromms, Hermann Lübbes und Niklas Luhmanns sedimentiert. Diesen Aspekt von Religiosität zu würdigen, stellt die zweite Stoßrichtung dieser Unterrichtssequenz dar.

Der Holocaust ist nur einer von vielen Anlässen, das Theodizee-Problem erneut zu formulieren. Das Theodizee-Problem als solches wurde in der neuzeitlichen Denkgeschichte im Wesentlichen von Gottfried Wilhelm Leibniz bearbeitet.5 In seinem 1710 erschienenen Werk „Essais sur ThÉodicÉe“ wurde auch das Kunstwort „Theodizee“ geprägt. Es setzt sich zusammen aus griech. theÓs (Gott) und dÍke (Gerechtigkeit). Die sog. Theodizee-Frage stellt also die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, ob es bspw. gerecht von ihm ist, seine Geschöpfe leiden zu lassen. Es geht darum, eine Rechtfertigung (der Vorstellung) Gottes angesichts des sinnlos erscheinenden Übels in der Welt zu finden. Damit wird die Frage berührt, wie die Vorstellung einer vollkommenen Gottheit mit der Erfahrung einer unvollkommenen Welt in Einklang gebracht werden kann. Die Grundintention von Leibniz war es, Glauben und Wissen zu versöhnen. Dies bietet Anlass, in dieser Unterrichtssequenz anhand verschiedener Beantwortungen der Theodizee-Frage das jeweilige Verhältnis von Glauben und Wissen und damit auch der Religion zur Philosophie zu bestimmen. So der dritte und letzte Grundimpetus dieser Sequenz.

Das Theodizee-Problem als ein existenzielles artikuliert sich in fast allen Religionen (so z.B. bei Hiob im Alten Testament). Zu einem theoretischen Problem wird es erst dort, wo (christliche) Frömmigkeit auf griechische Philosophie trifft. Dementsprechend wurde bereits in der Antike sowie im Mittelalter über den Widerspruch zwischen der Vorstellung eines allgütig-allmächtigen Gottes und dem Übel in der Welt, unter dem der Mensch leidet, nachgedacht: Eine Lösung dieses Problems bot sich bspw. für die Gnosis in der Annahme eines zweiten Weltprinzips bzw. eines Gegenspieler Gottes, der Gottes Streben nach Leidvermeidung hintertreibt. Bei Augustinus nimmt der Mensch mit seinem freien Willen diese Rolle ein. Das Übel ist aber für Augustinus ontologisch kein Übel, sondern bloß ein Mangel an Gutem. In Analogie hierzu sieht Leibniz die Welt, in der physisches Übel und moralisches Böses geschieht, als die „beste aller möglichen Welten“. Was dem Menschen in dieser Welt als Übel erscheint, ist aufs Ganze gerechnet nicht von Übel, sondern die Ursache kommenden Guten. Das Theodizee-Problem löst sich somit auf.

Diese Lösung des Problems blieb freilich vorläufig. Voltaire unterzog angesichts des Erdbebens von Lissabon (1755) den Optimismus leibnizscher Prägung einer Kritik, der sich später Arthur Schopenhauer anschloss. Immanuel Kant wiederum wies 1791, nach der kritischen Wende, die menschliche Vernunft in seiner Schrift „Über das Misslingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“ konsequent in ihre Schranken, sah aber im Bemühen des Menschen um einen allgemeinen weltbürgerlichen Zustand eine Rechtfertigung der Vorsehung. Georg Wilhelm Friedrich Hegel verstand den Gang der Weltgeschichte als Verwirklichung der Idee der Freiheit, was mit einer Rechtfertigung Gottes einhergehe.

Radikal in Frage gestellt wurden Metaerzählungen wie die hegelsche durch den Zivilisationsbruch „Auschwitz“ Mitte des 20. Jahrhunderts. Das Leiden und Sterben von 6 Millionen Juden im Holocaust vertrug und verträgt sich nicht mit dem von Hegel postulierten Gang der Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Genauso wenig passte es zu der Vorstellung eines allmächtig-gütigen Gottes, dass dieser gerade „sein Volk“ derartig leiden ließ.

„Auschwitz“ firmiert daher nach Susan Neiman wie „Lissabon“ als Paradigmenwechsel im Nachdenken über Gott und das Böse:6 Die Stoßwellen des Erdbebens von Lissabon erschütterten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert die von Leibniz bestimmte Denkungsart einer Erklärung physischer Übel in der Philosophie mit, woraufhin sich die Anstrengungen des Nachdenken auf Erklärungsversuche für moralisches Böses verlagerte. Auschwitz wiederum, so Neiman, offenbarte, dass es eine Illusion war, zu glauben, dem moralischen Bösen mit menschlicher Vernunft beikommen zu können.

Insbesondere die Religionen sowie die sie reflektierenden Theologien sehen sich nach Auschwitz durch Auschwitz herausgefordert, denn: „Alle religiösen Traditionen haben sich mit den Fragen nach dem Sinn des Leids auseinander gesetzt. Alle verkünden eine Frohe Botschaft, ein Evangelium, das in der Zusage besteht, dass das Dasein einen Sinn hat. Soll diese Zusage nicht lediglich eine leere Behauptung bleiben, müssen sie Antworten auf die Frage finden, worin der Sinn des Leids besteht.“ 7


1 Jan-Heiner Tück: Gottes Augapfel. Bruchstücke zu einer Theologie nach Auschwitz, Freiburg i. Br. (Herder) 22016, S. 17.

2 Eindrucksvolles Zeugnis hierfür: Herlinde Koelbl: Jüdische Porträts. Photographien und Interviews, Frankfurt a.M. (Fischer) 1989; jüngste Publiktation hierzu: HÉdi Fried: Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden, aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann, Köln (Dumont) 2019, insb. S. 139-141.

3 So die treffende Klassifizierung der Ansätze Lübbes, Luhmanns, Bergers und Fromms bei Michael Weinrich: Religion und Religionskritik, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2011, S. 217.

4 Ebd., S. 141.

5 Für dies und das Folgende vgl. S. Lorenz.: [Art.] Theodizee, in: J. Ritter und K. Gründer (Hgg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt (WBG) 1998, Bd. 10, Sp. 1066-1070; M. Gessmann (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Stuttgart (Kröner) 232009, S. 712; J. Mittelstraß: [Art.] Theodizee, in: Ders. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Stuttgart (Metzler) 1996, Bd. 4, S. 247f.

6 Für das Folgende vgl. S. Neiman: Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2004 sowie die Einordnung bei C. Schäfer (Hg.): Was ist das Böse? Philosophische Texte von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart (Reclam) 2013, S. 19-21.

7 A. Loichinger u. A. Kreiner: An den Leser, in: Dies. (Hgg.): Theodizee in den Weltreligionen. Ein Studienbuch, Paderborn (Schöningh) 2010, S. 7f., hier S. 7.

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