Volker Gerhardt (geb. 1944): Glauben, der dem Wissen nicht widerspricht
[Es] ist auch unter modernen Bedingungen daran festzuhalten, dass Gott kein Gegenstand des Wissens sein kann. Manche empfinden das als einen Verlust. In Wahrheit ist es ein Gewinn. Denn dem geglaubten Gott muss man keinen Ort zusprechen, weder innerhalb noch außerhalb der Welt; man kann ihn auch nicht, wie es der Pantheismus versucht, mit der als gegenständlich gefassten Welt identifizieren. Wohl aber kann er als die unbegrenzte Gegenwart gedacht und geglaubt werden, deren Einheit in Korrespondenz zur personalen Einheit des Menschen zu begreifen ist.
Darin liegt keine Abwertung, sondern eine theologische Auszeichnung Gottes, der als die sich in allem gleichermaßen äußernde Kraft oder Macht oder, was wohl das Treffendste ist, als die alles umfassende Wirklichkeit verstehen lässt, die in allem gegenwärtig ist. Sie hat es unter keinen Umständen nötig, wie ein von außen hinzukommender Akteur korrigierend einzugreifen. Würde Gott das tun, änderte er damit eben die Ordnung, die uns als Zeichen seiner Erhabenheit und Größe erscheint. […]
Mit dem konsequent geglaubten Gott ist die Einschränkung verbunden, dass ihm nichts zugemutet (oder angedichtet) werden darf, was dem gesicherten Wissen von der Welt widerspricht. Wir können glauben, dass sich Gott im Ganzen wie auch im Einzelnen offenbart, dass sich alles, im Ganzen wie im Einzelnen, als Zeichen verstehen lässt, das wir mit seinem Wirken verbinden – weil wir es anders gar nicht verstehen können. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Annahme, dass Gott den Naturgesetzen zuwiderhandelt, dass er als Wundertäter eingreift oder gar etwas tatsächlich „Unmögliches“ tut, als eine Geringschätzung der göttlichen Ordnung ansehen, in der ja nicht nur er (als Gott) zum Ausdruck kommt, sondern in der wir selbst – mitsamt unserem Wissen und Glauben (und das heißt auch: mit unserem Verständnis des Göttlichen) – möglich sind.
Aufgaben
Markiere die richtige Antwort im Sinne des Textes 3.2.; es können jeweils mehrere Antworten richtig sein:
Als Grund dafür, dass Gott vom menschlichen Wissen nicht erfasst werden kann, gibt Gerhardt an:
I …Gott ist nicht gegenständlich, aber als Klammer zu verstehen, die alles zusammenhält.
II …Gott ist unbegrenzt und kann deshalb von begrenzten Wesen nicht erfasst werden.
III …Gott ist keine personale Einheit, nur als eine solche kann er von Personen erfasst werden
IV …Gott wirkt als Kraft, die sich selbst nicht offenbart, sondern nur in ihren Wirkungen ausdrückt.
Die Vorstellung, dass Gott ein einheitliches personales Wesen ist, hält Gerhardt für…
I …einen Analogieschluss des Menschen von sich auf andere(s).
II …einen Fehlschluss, da Gott schließlich als etwas Unbegrenztes gedacht werden muss.
III …eine Konstruktion des Menschen, die vielen Rollen Gottes auf eine zu reduzieren
IV …eine Hilfskonstruktion, die Unermesslichkeit Gottes als Einheit begreifbar zu machen.
Dass sich Wunder ereignen, hält Gerhardt für…
I …einen Beweis für die Existenz Gottes, weil…
II …keinen Beweis für die Existenz Gottes, weil
III …einen Beweis für die Vorläufigkeit menschlichen Wissens, weil
IV …keinen Beweis für die Vorläufigkeit menschlichen Wissens, weil…
Welche Haltung dürfte Gerhardt gegenüber der diskutierten Frage, wo Gott in Auschwitz gewesen sei, einnehmen? Begründe (auch unter Bezugnahmen auf den Text).
I …Die Frage führt in die Irre, weil sein Retten die auch ihn bedingende Welt in Frage gestellt hätte.
II …Die Frage ist berechtigt, da sich Gott doch im Ganzen wie im Einzelnen offenbart.
III …Die Frage führt in die Irre, da sie von Gott Wunder erwartet.
IV …Die Frage ist berechtigt, da die Frage selbst ein Zeichen seines Wirkens darstellt.
In welchem Punkt stimmen Schopenhauer und Gerhardt überein?
I Das Geglaubte ist dem Wissen unzugänglich
II Glaube und Wissen sind streng zu trennen.
III Das Geglaubte darf dem Wissen nicht widerstreiten.
IV Glauben und Wissen haben ihre je eigene Sphäre.
An welchem Punkt könnte eine Kritik an der Argumentation Gerhardts ansetzen?
I Es wird nicht hinreichend zwischen ‚Denken‘ und ‚Glauben‘ differenziert (z.B. Z. 5f.).
II Er hat einen immanenten, keinen transzendenten Begriff Gottes
III Er wendet sich gegen pantheistische Vorstellungen (Z. 4f.), formuliert aber selbst welche (Z. 9f.).
IV Gott ist nicht vom Wissen zu erfassen (Z. 1f.), darf diesem aber auch nicht widersprechen (Z. 15).
Umsetzungsbeispiel Religion und Religionskritik: Wo war Gott in Auschwitz?: Herunterladen [docx][3 MB]
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