Volker Gerhardt (geb. 1944): Allgemeingültiges Wissen, individueller Glauben
Das Wissen erhebt den nur mit seinen Mitteln zu erfüllenden Anspruch auf Sachhaltigkeit und strenge Allgemeinheit. Darin ist es dem Glauben überlegen, der weder durch einen Bezug auf einen gegenständlich gegebenen noch von jedermann in exakt derselben Weise erkennbaren Sachverhalt ausgezeichnet ist. Der Glauben geht in seiner Überzeugungskraft nicht über die sinnliche und logische Gewissheit eines Individuums hinaus. Aber in der Überzeugung seines persönlichen Ausgangspunkts kann er […] auf die Einheit der Wirklichkeit ausgreifen und sie glaubend als das alles umgreifende Ganze verstehen. Dies wiederum kann für den Gläubigen als das Göttliche begriffen werden, von dem die Person des Gläubigen nicht ausgeschlossen werden darf. […] Wissen hat den Maßgaben der Objektivität zu genügen und kann die […] benötigte Allgemeingültigkeit bieten; Glauben hingegen bleibt in seiner epistemischen* Leistung zwangsläufig individuell. Er beruht auf einer Evidenz, für die vieles sprechen kann, was im Medium der Lebenserfahrung persönlich, historisch, ästhetisch, kulturell, politisch überzeugt. Letztlich hat der Glauben einen existentiellen Charakter, der nur dadurch auch andere Menschen für sich gewinnen kann. In der Unmittelbarkeit seines individuellen Ausdrucks ist es ihm möglich, stimulierende Empfindungen und erwartungsvolle Gefühle bei Gleichgesinnten auszulösen. So vermag der ganz auf die Disposition des Einzelnen gegründete Glauben gleichwohl helfenden, ermutigenden wie auch tröstlichen Beistand zu spenden. Er kann zu einem hochgestimmten Erlebnis der Gemeinschaft führen, die den leiblich-seelischen Impuls des religiösen Gefühls in Feier, Fest und kunstvollem Zeremoniell zu kultivieren vermag. […]. Alles in allem ist der Glauben in der Lage, die praktisch unverzichtbaren Einheiten des Menschen auf der einen und der Welt auf der anderen Seite so aufeinander zu beziehen, dass sie im Zusammenhang erfahren und in ihrem durch kein Wissen zu vermittelnden Gewinn für die Lebensführung des Einzelnen geschätzt werden können.
Anmerkungen
epistemisch (Z. 10): auf die Erkenntnis bezogen
Aufgaben
Markiere die richtige Antwort im Sinne des Textes 3.3.; es können jeweils mehrere Antworten richtig sein:
Eine passende Überschrift für den Abschnitt Z. 1-12 lautet:
I Die Überlegenheit des Wissens über den Glauben
II Glauben und Wissen – unterschiedliche Gegenstände, unterschiedliche Vermögen
III Ganzheitlicher Wirklichkeitsbezug durch Glauben statt durch Wissen
IV Das Göttliche – mittels Glauben und Wissen unterschiedlich erfahrbar
Eine passende Überschrift für den Abschnitt Z. 12-19 lautet:
I Gemeinschaftliche Aspekte des individuellen Glaubens
II Voraussetzungen und Bedingungen der Missionierung
III Hilfe, Ermutigung und Trost durch Glauben
IV Gemeinschaftserlebnisse nur mit Gleichgesinnten
Eine passende Überschrift für den Abschnitt Z. 19-22 lautet:
I Glauben: Ein Gewinn für die Lebensführung aller
II Glauben versöhnt Mensch und Welt
III Glauben stiftet Einheit der Menschen
IV Glauben macht Zusammenhang zwischen Mensch und Welt erfahrbar
Folgende Attribute werden nach Gerhardt dem Wissen zugeordnet:
I Stringenz
II Allgemeingültigkeit
III Objektivität
IV Exaktheit
V Sachhaltigkeit
VI sinnliche und logische Gewissheit
Folgende Attribute werden nach Gerhardt dem Glauben zugeordnet:
I Evidenz durch Lebenserfahrung
II Gegenständlichkeit
III Einheitsgefühle
IV Individualität
V Subjektivität
VI sinnliche und logische Gewissheit
Folgende These fasst die Aussage des Textes gut zusammen:
I Glauben übersteigt den Gegenstandsbereich des Wissens und begreift somit Gott.
II Glauben übersteigt den Gegenstandsbereich des Wissens und versteht dessen Einheit als Gott.
III Glauben übersteigt den Gegenstandsbereich des Wissens und weist Zusammenhänge auf.
IV Glauben übersteigt den Gegenstandsbereich des Wissens und stiftet Zusammenhang.
Umsetzungsbeispiel Religion und Religionskritik: Wo war Gott in Auschwitz?: Herunterladen [docx][3 MB]
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