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Hin­ter­grund­tex­te

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Diese Seite ist Teil einer Ma­te­ria­li­en­samm­lung zum Bil­dungs­plan 2004: Grund­la­gen der Kom­pe­tenz­ori­en­tie­rung. Bitte be­ach­ten Sie, dass der Bil­dungs­plan fort­ge­schrie­ben wurde.

Ma­te­ri­al 1:

Die Mi­gra­ti­on ist seit jeher ein kon­sti­tu­ti­ver Be­stand­teil des mensch­li­chen Le­bens. Das liegt auch darin be­grün­det, dass der Mensch prin­zi­pi­ell nicht in eine Welt mit den kli­ma­ti­schen, ma­te­ri­el­len und sons­ti­gen Le­bens­be­din­gun­gen hin­ein­ge­bo­ren wird, die für sein Über­le­ben freund­lich ge­stimmt ist. Er hat eine Auf­ga­be zu be­wäl­ti­gen, aus einer für ihn nicht vor­be­rei­te­ten und oft feind­li­chen Um­welt eine be­wohn­ba­re und sein Über­le­ben er­mög­li­chen­de Le­bens­welt zu schaf­fen. Die Mi­gra­ti­on dient dazu, neue und bes­se­re Le­bens­be­din­gun­gen zu er­schlie­ßen. Die Ge­schich­te der Mi­gra­ti­on ist somit nicht von der Ge­schich­te der Mensch­heit zu tren­nen, weil der Mensch immer auf der Suche nach bes­se­ren Le­bens­be­din­gun­gen war und ist. Sie ist im wei­tes­ten Sinn auch eine Ge­schich­te über die Schaf­fung und Wei­ter­ent­wick­lung der Kul­tur und Zi­vi­li­sa­ti­on, die der Mensch bei sei­ner krea­ti­ven Er­schlie­ßung bes­se­rer Le­bens­be­din­gun­gen und bei der Um­ge­stal­tung der le­bens­feind­li­chen in eine le­bens­freund­li­che Um­welt schafft.

(Pe­trus Han, Theo­ri­en zur in­ter­na­tio­na­len Mi­gra­ti­on, Stutt­gart, 2006, 1.)

 

Ma­te­ri­al 2:

Der Be­griff der „mul­ti­kul­tu­rel­len Ge­sell­schaft“ kam in den frü­hen 80er Jah­ren auf und be­schrieb in An­leh­nung an Er­fah­run­gen und Kon­zep­te in Ka­na­da, Aus­tra­li­en und den USA die Ten­denz, in einer durch ver­schie­de­ne Ein­wan­de­rungs­grup­pen ge­präg­ten Ge­sell­schaft nicht mehr die tra­di­tio­nel­le Kul­tur der Mehr­heit als al­lein bin­dend - etwa im Schul­un­ter­richt - zu be­trach­ten, son­dern die Kul­tu­ren der Ein­wan­de­rungs­grup­pen und der Mehr­heits­ge­sell­schaft gleich­be­rech­tigt ne­ben­ein­an­der zu ak­zep­tie­ren. Die Rede vom „Ein­wan­de­rungs­land“ si­gna­li­sier­te vor allem, dass die Zu­wan­de­rung nach Deutsch­land seit den 60er Jah­ren im Er­geb­nis längst zu einer De-facto-Ein­wan­de­rung ge­führt habe, die je­doch po­li­tisch igno­riert werde und nun­mehr durch eine Ein­wan­de­rungs­po­li­tik ge­steu­ert wer­den müsse.
Al­ler­dings war der Be­griff der „mul­ti­kul­tu­rel­len Ge­sell­schaft“ in der deut­schen Dis­kus­si­on durch­aus nicht prä­zi­se. In den USA war mit dem Pos­tu­lat vom gleich­be­rech­tig­ten Ne­ben­ein­an­der der ver­schie­de­nen Ein­wan­de­rungs­kul­tu­ren vor allem die Ab­wen­dung vom vor­wie­gend wei­ßen, an­gel­säch­sisch ge­präg­ten und eu­ro­pä­isch ori­en­tier­ten Po­li­tik- und Kul­tur­mo­dell ver­bun­den. Die Kul­tu­ren afri­ka­nisch, la­tein­ame­ri­ka­nisch, asia­tisch und ost­eu­ro­pä­isch ge­präg­ter Ein­wan­de­rer soll­ten in glei­cher Weise Be­rück­sich­ti­gung fin­den - was sich etwas auf die Er­zie­hungs­pro­gram­me an den Schu­len und die Lehr­in­hal­te an den Uni­ver­si­tä­ten stark aus­wirk­te. In­so­weit mit sol­chen Kon­zep­ten auch eine Ab­wen­dung vom west­lich ge­präg­ten Ver­fas­sungs­prin­zi­pi­en ver­bun­den war, hatte es in den USA eine sehr kon­tro­ver­se De­bat­te über diese Fra­gen ge­ge­ben. In Deutsch­land hin­ge­gen ver­band sich mit dem Be­griff in eher all­ge­mei­ner Weise die Ak­zep­tanz frem­der Kul­tu­ren in Deutsch­land, wobei sich dies an­ge­sichts der Zu­wan­de­rungs­struk­tur ja zu fast 90% auf Eu­ro­pä­er bezog.

(Ul­rich Her­bert, Ge­schich­te der Aus­län­der­po­li­tik in Deutsch­land, 2003, 323)

 

Ma­te­ri­al 3:

Zieht man das klas­si­sche Push- und Pull-Mo­dell heran, das Fak­to­ren der Mi­gra­ti­on  nach ihrer Sog- und Druck­wir­kung un­ter­schei­det, so wird deut­lich, dass sich die Grün­de wie­der­ho­len, wes­halb Men­schen ihre Hei­mat ver­las­sen und mit der Hoff­nung auf einen Neu­be­ginn und bes­se­re Chan­cen die Frem­de auf­su­chen: Be­völ­ke­rungs­druck, Armut, Krieg und Be­set­zung, po­li­tisch, kon­fes­sio­nell und eth­nisch mo­ti­vier­te Un­ter­drü­ckung, Ver­fol­gung und Ver­trei­bung er­wie­sen sich als Push-Fak­to­ren in ihrer oft wech­sel­sei­ti­gen Wir­kung und Ver­stär­kung als die zen­tra­len Mo­to­ren von Mi­gra­ti­on. Vor allem Krie­ge sind in viel­fa­cher Weise immer wie­der auf das Engs­te mit der zwangs­wei­sen Mo­bi­li­sie­rung von Be­völ­ke­rungs­grup­pen ver­bun­den ge­we­sen. Das gilt für den Drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg und die fol­gen­den ge­walt­sa­men Kon­flik­te im so­ge­nann­ten kon­fes­sio­nel­len Zeit­al­ter, also im 17. und 18. Jahr­hun­dert, glei­cher­ma­ßen für die zer­stö­re­ri­schen Krie­ge im „Zeit­al­ter der Ex­tre­me“, dem 20. Jahr­hun­dert. Kriegs­be­ding­te Wan­de­run­gen der zi­vi­len Be­völ­ke­rung gab es al­ler­dings nicht nur wäh­rend der Kriegs­zei­ten. An jedem Kriegs­en­de gab es in der Regel nicht nur zer­stör­te Städ­te und Dör­fer, son­dern auch de­mo­gra­phi­sche Ka­ta­stro­phen für ganze Land­stri­che und eine kriegs­fol­gen­be­ding­te Be­völ­ke­rungs­be­we­gung.
Neben die­sen For­men zwangs­wei­ser Mi­gra­ti­on steht die wirt­schaft­lich mo­ti­vier­te Wan­de­rung von Men­schen aus Re­gio­nen mit einer aus­ge­präg­ten Wan­de­rungs­tra­di­ti­on. Die zuvor skiz­zier­ten Mi­gra­ti­ons­be­we­gun­gen ver­ste­hen sich als Folge äu­ße­rer Um­stän­de - meist auf Kri­sen­si­tua­tio­nen in der Hei­mat hin. Die „pull-Fak­to­ren“ also die at­trak­ti­ve­ren Nie­der­las­sungs­mög­lich­kei­ten in der Ziel­re­gi­on, die zu Be­völ­ke­rungs­wan­de­run­gen in­ner­halb öko­no­misch ver­floch­te­ner Räume füh­ren, sind nicht not­wen­di­ger­wei­se auf eine Not­la­ge zu­rück­zu­füh­ren. Sie kön­nen auch eine spe­zi­fi­sche Form und Stra­te­gie der Ka­pi­tal­ver­meh­rung sein. Mit der Er­kennt­nis, dass die vor­in­dus­tri­el­len Ge­sell­schaf­ten kei­nes­falls im­mo­bil waren, ist Mi­gra­ti­on auch als In­ves­ti­ti­on in die Zu­kunft und als Aus­druck ver­grö­ßer­ter, „glo­ba­li­sier­ter“ Wirt­schafts- und Ak­ti­ons­räu­me zu ver­ste­hen. Mi­gra­ti­on muss somit nicht das „Si­cher­heits­ven­til eines ver­sa­gen­den Sys­tems“ sein, son­dern kann durch­aus auch ein „nor­ma­ler“ Be­stand­teil eins funk­tio­nie­ren­den, wirt­schaft­lich ver­floch­te­nen Sys­tems dar­stel­len.

(Braun/Weber, Klei­ne Ge­schich­te der Ein- und Aus­wan­de­rung in Baden-Würt­tem­berg,13/14.)

 

Ma­te­ri­al 4:

Räum­li­che Be­stre­bun­gen zur Er­schlie­ßung oder Aus­nut­zung von Chan­cen streb­ten nicht aus­schließ­lich nach einer Sta­bi­li­sie­rung oder Ver­bes­se­rung der öko­no­mi­schen und so­zia­len Lage von Zu­wan­de­rern im Ziel­ge­biet. Wan­de­rungs­zweck konn­te glei­cher­ma­ßen die Ver­bes­se­rung der Si­tua­ti­on in der Her­kunfts­ge­sell­schaft sein, wie bei den sai­so­na­len Ar­beits­wan­de­run­gen oder bei den Rück­wan­de­run­gen nach Jah­ren oder Jahr­zehn­ten der Er­werbs­tä­tig­keit in der Frem­de. Eine aus­ge­spro­chen hohe Be­deu­tung haben bis in die Ge­gen­wart für ein­zel­ne Haus­hal­te, für re­gio­na­le Öko­no­mi­en oder selbst für ganze Volks­wirt­schaf­ten die mehr oder min­der re­gel­mä­ßi­gen Geld­über­wei­sun­gen durch Mi­gran­ten an zu­rück­blei­ben­de Fa­mi­li­en­mit­glie­der (Rück­über­wei­sun­gen).
Mi­gra­ti­on bil­de­te in den ge­nann­ten Kon­tex­ten ein Ele­ment der Le­bens­pla­nung und ver­band sich häu­fig mit (er­werbs-)bio­gra­phi­schen Grund­satz­ent­schei­dun­gen wie Hei­rat, Wahl des Be­rufs oder Ar­beits­plat­zes; der über­wie­gen­de Teil der Ar­beits-, Aus­bil­dungs-, Sied­lungs- und Hei­rats­wan­de­rer war also jung. Der Wan­de­rungs­ent­schluss re­sul­tier­te in der­ar­ti­gen so­zia­len Kon­stel­la­tio­nen aus per­sön­li­chen Ent­schei­dun­gen oder Ar­ran­ge­ments in Fa­mi­li­en­wirt­schaf­ten. In­di­vi­du­el­le bzw. fa­mi­li­en­wirt­schaft­li­che Hand­lungs­al­ter­na­ti­ven gab es al­ler­dings vor allem dann nicht, wenn auf­grund von wirt­schaft­li­chen, so­zia­len oder um­welt­be­ding­ten Kri­sen exis­ten­zi­el­le Not droh­te oder herrsch­te. Sol­che Not­la­gen ver­lo­ren zwar im Ab­wan­de­rungs­raum Deutsch­land des 19. Jahr­hun­derts an Ge­wicht, präg­ten aber bis in die Ge­gen­wart viel­fäl­ti­ge Zu­wan­de­run­gen nach Mit­tel­eu­ro­pa.

(Jo­chen Olt­mer. Mi­gra­ti­on im 19. und 20. Jahr­hun­dert. Mün­chen: Ol­den­bourg, 2010, 2.)

  Teil A

 

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