Max Weber
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Diese Seite ist Teil einer Materialiensammlung zum Bildungsplan 2004: Grundlagen der Kompetenzorientierung. Bitte beachten Sie, dass der Bildungsplan fortgeschrieben wurde.
Der Soziologe Max Weber über spezifisch europäische Rationalisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit (1920):
Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von
universeller
Bedeutung und Gültigkeit lagen?
Nur im Okzident gibt es „Wissenschaft“ in dem Entwicklungsstadium, welches wir heute als „gültig“ anerkennen. Empirische Kenntnisse, Nachdenken über Welt- und Lebensprobleme, philosophische und auch […] theologische Lebensweisheit tiefster Art, Wissen und Beobachtung von außerordentlicher Sublimierung hat es auch anderwärts, vor allem: in Indien, China, Babylon, Ägypten gegeben. Aber: der babylonischen und jeder anderen Astronomie fehlte […] die mathematische Fundierung, die erst die Hellenen ihr gaben. Der indischen Geometrie fehlte der rationale „Beweis“: wiederum ein Produkt des hellenischen Geistes, der auch die Mechanik und Physik zuerst geschaffen hat. Den nach der Seite der Beobachtung überaus entwickelten indischen Naturwissenschaften fehlte das rationale Experiment: nach antiken Ansätzen wesentlich ein Produkt der Renaissance, und das moderne Laboratorium, daher der namentlich in Indien empirisch-technisch hoch entwickelten Medizin die biologische und insbesondere biochemische Grundlage. Eine rationale Chemie fehlt allen Kulturgebieten außer dem Okzident. Der hoch entwickelten chinesischen Geschichtsschreibung fehlt das thukydideische Pragma. Macciavelli hat Vorläufer in Indien. Aber aller asiatischen Staatslehre fehlt eine der aristotelischen gleichartige Systematik und die rationalen Begriffe überhaupt. Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts trotz aller Ansätze in Indien (Mimamsa-Schule), trotz umfassender Kodifikationen besonders in Vorderasien und trotz aller indischen und sonstigen Rechtsbücher, die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes. Ein Gebilde ferner wie das kanonische Recht kennt nur der Okzident.
Ähnlich in der Kunst. […] Alle unsere rationalen Tonintervalle waren auch anderwärts berechnet und bekannt. Aber rationale harmonische Musik: - sowohl Kontrapunktik wie Akkordharmonik, - Bildung des Tonmaterials auf der Basis der drei Dreiklänge mit der harmonischen Terz, unsere, nicht distanzmäßig, sondern in rationaler Form seit der Renaissance harmonisch gedeutete Chromatik und Enharmonik […]: dies alles gab es nur im Okzident. […]
Ebenso aber fehlt [in der Architektur], obwohl die technischen Grundlagen dem Orient entnommen waren, jene Lösung des Kuppelproblems und jene Art von „klassischer“ Rationalisierung der gesamten Kunst – in der Malerei durch rationale Verwendung der Linear- und Luftperspektive –, welche die Renaissance bei uns schuf. Produkte der Druckerkunst gab es in China. Aber eine gedruckte: eine
nur
für den Druck berechnete, nur durch ihn lebensmögliche Literatur: „Presse“ und „Zeitschriften“ vor allem, sind nur im Okzident entstanden. Hochschulen aller möglichen Art, auch solche, die unsern Universitäten oder doch unsern Akademien äußerlich ähnlich sahen, gab es auch anderwärts (China, Islam). Aber rationalen und systematischen Fachbetrieb der Wissenschaft: das eingeschulte
Fachmenschentum
, gab es in irgendeinem an seine heutige kulturbeherrschende Bedeutung heranreichenden Sinn nur im Okzident. Vor allem: den Fach
beamten
, den Eckpfeiler des modernen Staats und der modernen Wirtschaft des Okzidents. Für ihn finden sich nur Ansätze, die nirgends in irgendeinem Sinn so konstitutiv für die soziale Ordnung wurden wie im Okzident. Natürlich ist der „Beamte“, auch der arbeitsteilig spezialisierte Beamte, eine uralte Erscheinung der verschiedensten Kulturen. Aber die absolut unentrinnbare Gebanntheit unserer ganzen Existenz, der politischen, technischen und wirtschaftlichen Grundbedingungen unseres Daseins, in das Gehäuse der fachgeschulten Beamten
organisation
, den technischen, kaufmännischen, vor allem aber den
juristisch
geschulten staatlichen Beamten als Träger der wichtigsten Alltagsfunktionen des sozialen Lebens, hat kein Land und keine Zeit in dem sinn gekannt, wie der moderne Okzident.
Ständische
Organisation der politischen und sozialen Verbände ist weit verbreitet gewesen. Aber schon der Stände
staat
: „rex et regnum“, kannte im okzidentalen Sinn nur der Okzident. Und vollends Parlamente von periodisch gewählten „Volksvertretern“, den Demagogen und die Herrschaft von Parteiführern als parlamentarisch verantwortliche „Minister“ hat […] nur der Okzident hervorgebracht. Der „Staat“ überhaupt im Sinn einer politischen
Anstalt
, mit rational gesatzter „Verfassung“, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: „Gesetzen“, orientierten Verwaltung durch
Fach
beamte, kennt, in dieser für ihn wesentlichen Kombination der entscheidenden Merkmale, ungeachtet aller anderweitigen Ansätze dazu, nur der Okzident.
Und so steht es nun auch mit der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens; dem
Kapitalismus.
[…] Aber ebenso wie – trotzdem es doch überall einmal städtische Marktprivilegien, Zünfte, Gilden und allerhand rechtliche Scheidungen zwischen Stadt und Land in der verschiedensten Form gab, – doch der Begriff des „Bürgers“ überall außer im Okzident und der Begriff der „Bourgeoisie“ überall außer im modernen Okzident fehlte, so fehlte auch das „Proletariat“ als
Klasse
und musste fehlen, weil eben die rationale Organisation
freier Arbeit
als
Betrieb
fehlte. […] Aber schon die okzidental-mittelalterlichen Kämpfe zwischen Verlegern und Verlegten finden sich anderwärts nur in Ansätzen. Vollends fehlt der moderne Gegensatz: großindustrieller Unternehmer und freier Lohnarbeiter. Und daher konnte es auch eine Problematik von der Art, wie sie der moderne Sozialismus kennt, nicht geben. […]
Der spezifisch moderne okzidentale Kapitalismus nun ist zunächst offenkundig in starkem Maße durch Entwicklungen von
technischen
Möglichkeiten bestimmt. Seine Rationalität ist heute wesenhaft bedingt durch Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren: der Unterlagen exakter Kalkulation. Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundamentierten Naturwissenschaften. Die Entwicklung dieser Wissenschaften und der auf ihnen beruhenden Technik erhielt und erhält nun andererseits ihrerseits entscheidende Impulse von den kapitalistischen Chancen, die sich an ihre wirtschaftliche Verwertbarkeit als Prämien knüpfen. […] Denn der moderne rationale Betriebskapitalismus bedarf, wie der berechenbaren technischen Arbeitsmittel, so auch des berechenbaren Rechts und der Verwaltung nach formalen Regeln […].
Wie von rationaler Technik und rationalem Recht, so ist der ökonomische Rationalismus in seiner Entstehung auch von der Fähigkeit und Disposition der Menschen zu bestimmten Arten praktisch-rationaler
Lebensführung
überhaupt abhängig. Wo diese durch Hemmungen seelischer Art obstruiert war, da stieß auch die Entwicklung einer
wirtschaftlich
rationalen Lebensführung auf schwere innere Widerstände. Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten ethischen Pflichtvorstellungen. (12)
Der Glaube nun, um welchen in den kapitalistisch höchst entwickelten Kulturländern: den Niederlanden, England, Frankreich im 16. und 17. Jahrhundert die großen politischen und Kulturkämpfe geführt worden sind und dem wir uns deshalb zuerst zuwenden, war der
Calvinismus
. Als sein am meisten charakteristisches Dogma galt damals und gilt im allgemeinen auch heute die Lehre von der
Gnadenwahl
. (87-89) […] Hier kehren wir aber zunächst noch einmal zur Betrachtung speziell der Prädestinationslehre zurück. Denn das für uns entscheidende Problem ist erst: wie wurde diese Lehre
ertragen
in einer Zeit, welcher das Jenseits nicht nur wichtiger, sondern in vieler Hinsicht auch sicherer war als alle Interessen des diesseitigen Lebens. Die eine Frage musste ja alsbald für jeden einzelnen Gläubigen entstehen und alle anderen Interessen in den Hintergrund drängen: Bin
ich
denn erwählt? Und wie kann
ich
dieser Erwählung sicher werden? – Für Calvin selbst war dies kein Problem. Er fühlte sich als „Rüstzeug“ und war seines Gnadenstandes sicher. Demgemäß hat er auf die Frage, wodurch der Einzelne seiner eigenen Erwählung gewiss werden könne, im Grunde genommen nur die Antwort: dass wir uns an der Kenntnis des Beschlusses Gottes und an dem durch den wahren Glauben bewirkten beharrlichen Zutrauen auf Christus genügen lassen sollen. Er verwirft prinzipiell die Annahme: man könne bei anderen aus ihrem Verhalten erkennen, ob sie erwählt oder verworfen seien, als einen vermessenen Versuch, in die Geheimnisse Gottes einzudringen. Die Erwählten unterscheiden sich in diesem Leben äußerlich in nichts von den Verworfenen und auch alle subjektiven Erfahrungen der Erwählten sind – als „ludibria spiritus sancti“ – auch bei den Verworfenen möglich, mit einziger Ausnahme jenes „
finaliter
“ beharrenden gläubigen Vertrauens. Die Erwählten sind und bleiben also Gottes
un
sichtbare Kirche. Anders ganz naturgemäß die Epigonen […] und vor allem die breite Schicht der Alltagsmenschen. Für sie musste die „certitudo salutis“ im Sinn der
Erkenn
barkeit des Gnadenstandes zu absolut überragender Bedeutung aufsteigen und so ist denn auch überall da, wo die Prädestinationslehre festgehalten wurde, die Frage nicht ausgeblieben, ob es sichere Merkmale gebe, an denen man die Zugehörigkeit zu den „electi“ erkennen könne. (102-104) […] (So) wurde, um jene Selbstgewissheit zu
erlangen
, als hervorragendstes Mittel
rastlose Berufsarbeit
eingeschärft. Sie und sie allein verscheuche den religiösen Zweifel und gebe die Sicherheit des Gnadenstandes. (105f.) Wie die Einschärfung der asketischen Bedeutung des festen Berufs das moderne
Fachmenschentum
ethisch verklärt, so die providentielle Deutung der Profitchancen den
Geschäfts
menschen. Die vornehme Lässlichkeit des Seigneurs und die parvenumäßige Ostentatin des Protzen sind der Askese gleichermaßen verhasst. Dagegen trifft ein voller Strahl ethischer Billigung den nüchternen bürgerlichen Selfmademan. (178) Soweit die Macht puritanischer Lebensauffassung reichte, kam sie unter allen Umständen – und dies ist natürlich weit wichtiger als die bloße Begünstigung der Kapitalbildung – der Tendenz zu bürgerlicher, ökonomisch
rationaler
Lebensführung zugute; sie war ihr wesentlichster und vor allem: ihr einzig konsequenter Träger. Sie stand an der Wiege des modernen „Wirtschaftsmenschen“. (195)
Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der
Berufsidee
, ist – das sollten diese Darlegungen erweisen – geboren aus dem Geist der christlichen Askese. (202)
(Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Tübingen (Mohr) 1963.)
Karl Marx über die bürgerliche Gesellschaft: Herunterladen [doc] [27 KB]
Soziologe Max Weber über spezifisch europäische Rationalisierungsprozesse in der Frühen Neuzeit (1920): Herunterladen [doc] [36 KB]
Hans-Ulrich Wehler, Gesellschaftsgeschichte als Versuch einer Synthese: Dimensionen und Ziele (1987): Herunterladen [doc] [34 KB]