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M5: Die Problematik einzelner Begriffe

M5 a) Fabien Eboussi-Boulaga: Wenn wir den Begriff „Entwicklung“ akzeptieren, sind wir verloren

Eboussi Boulaga (1934-2018) war ein kamerunischer Philosoph, der sich mit Fragen der Theologie und der politischen Philosophie beschäftigte.

Eboussi Boulaga kritisiert den zunächst neutral erscheinenden Begriff „Entwicklung“. Wenn wir ihn benutzen, so sagt er, „sind wir verloren“. Er beinhaltet immer eine Überlegenheitserzählung des Westens, geht davon aus, dass es den einen, richtigen Weg gibt, den der Westen technologisch und kulturell vorgibt. Für Eboussi Boulaga sind Aufklärung und Industrialisierung wichtige Stationen für dieses Überlegenheitsdenken. „Vernunft“, die sich unter anderem in industriellem Erfolg äußere, sei ein Grund für Europa gewesen, in nachchristlicher Zeit zu missionieren. Man muss „rational, wissenschaftlich und technologisch“ sein und denken und das alles beinhalte der europäische Begriff „Entwicklung“. Freiheit und Unabhängigkeit stehen erst dahinter, es geht darum die „Konsumstandards der industrialisierten Welt“ um jeden Preis zu erreichen.

Nach: Eboussi, Boulaga, Fabien, in: Dübgen, Franziska, Skupien, Stefan (Hrsg.): „Afrikanische politische Philosophie. Postkoloniale Positionen“ Suhrkamp Verlag Berlin 2015, S. 115-127, hier S. 121 f.

Aufgaben (M 5a)

  1. Stellen Sie das diskriminierende Potenzial von „Entwicklung“ gemäß diesem Text heraus.
  2. Diskutieren Sie: Welche Rolle spielt der Begriff „Entwicklung“ im Prozess der Unterdrückung?

M5 b) Zur Veranschaulichung: Ein Beispiel aus der deutschen Aufklärung (1789)...

Schlözer gilt als ein fortschrittlicher Denker der deutschen Aufklärung. Er war Historiker mit großem didaktischen Anspruch. In seinem Werk lassen sich aber auch typische Tendenzen seiner Zeit erkennen:

So schreibt er an seine Tochter, die er für ein Studium der Geschichte vorbereiten wollte: Lass uns eine Kulturleiter denken und dabei 20 Sprossen annehmen. Eigentlich kultivierte Leute sind nur wir Europäer in Europa und außerhalb. Wir stehen auf den 5 höchsten Stufen der Leiter, Wilde gibt es noch millionenweise auf der Erde. (S. 132-134)“ Aber „Kultur ist ansteckend“, so dass „kultivierte Menschen nicht-kultivierte Menschen kultivieren können. Dies wäre die Aufgabe deutscher Schulmeister, wenn sie nach Afrika kämen, so wie es die Römer für die Deutschen übernommen hätten.

Schlözer, August Gottwin von: Vorbereitung zur Weltgeschichte für Kinder, Vandenhoek und Ruprecht Verlag Göttingen 2011, S. 66f.

…und ein Zitat aus dem 19.Jahrhundert

„Afrika ist kein geschichtlicher Weltteil, er hat keine Bewegung und Entwicklung aufzuweisen.“

ca. 1822 von Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770-1831), bedeutender Philosoph des sog. deutschen Idealismus

Aufgaben (M5b):

  1. Erläutern Sie, inwiefern diese Texte/Zitate die Thesen von Boulaga illustrieren.
  2. Prüfen Sie die These von Boulaga, dass diese Ideen bis heute wirkmächtig sind.

M5 c) Ngugi wa Thiong’o: Wie das Wort „Stamm“ die Wirklichkeit afrikanischer Politik verschleiert

Die Analyse von Ereignissen in Afrika, wie sie die westlichen Mainstreammedien vornehmen, legt offen, dass das Wort „Stamm“ eine sinnvolle Betrachtung der Dynamik im modernen Afrika behindert. „Stamm“ mit seiner eindeutig abwertenden Konnotation des Primitiven und Vormodernen wird dem Begriff der „Nation“ gegenübergestellt, mit dem der Übergang zur Moderne positiver konnotiert wird. In einem Großteil der Medienberichte über Afrika wird behauptet, dass jede afrikanische Gemeinschaft aus einem Stamm bestehe und alle afrikanischen Menschen seien somit Stammesangehörige. Die Absurdität der gegenwärtigen Verwendung des Begriffs wird daran offenbar, dass eine Gruppe von 300.000 Isländer/innen eine Nation bilden, während 30.000.000 Igbo ein Stamm sind. Dabei erfüllt, was gemeinhin als Stamm bezeichnet wird, bei objektiver Betrachtung alle Kriterien, mit denen Nationen charakterisiert werden: gemeinsame Geschichte, Geographie, wirtschaftliches Leben, Sprache und Kultur. Diese ausschlaggebenden Merkmale sind eindeutig gesellschaftliche und historische, nicht-biologische Attribute. Dennoch stellt „Stamm“ für die Analyst/ innen so etwas wie einen genetischen Abdruck auf jedem afrikanischen Menschen dar, der alle seine Äußerungen und Handlungen erklärt, insbesondere anderen afrikanischen Gemeinschaften gegenüber. Welche Krise in welchem Teil Afrikas, zu welchem gegebenen historischen Zeitpunkt auch immer, die Analyst/innen gelangen stets zu ein und derselben Erklärung: Alles gründet sich immer auf der traditionellen Feindschaft zwischen Stamm X und Stamm Y. Das ist dasselbe, als schaue man auf den Präsidentschaftskandidaten John McCain und die Tatsache, dass er auf einer Marinebasis in Panama zur Welt kam und dann auf Barack Obama und die Tatsache, dass er in Hawaii geboren wurde und schlussfolgerte dann, dass ihre politischen Differenzen in ihrem jeweiligen Geburtsort begründet seien.

Probleme mit Begriffen der biologischen Veranlagung von Personen zu erklären, bringt gesellschaftliche Verzweiflung zum Ausdruck. Denn wenn ein Problem biologischer Natur ist, kann dessen Lösung auch nur biologischer Natur sein. Formulieren wir es anders: Wird ein Problem als biologisch angesehen, erscheint dessen Lösung mit gesellschaftlichen und politischen Mitteln nahezu unmöglich. All dies hat bei der internationalen Gemeinschaft schlicht zu Gleichgültigkeit gegenüber dem Leben der Afrikaner/innen geführt. Diese Einstellung mag zum Teil erklären, warum Menschen, Afrikaner/innen eingeschlossen, den Völkermord in Ruanda und Darfur zusehen können und nicht den Drang einzugreifen verspüren, als warteten sie darauf, dass die Biologie sich selbst in Ordnung bringt. Politische Diktaturen, die meist sogar vom Westen unterstützt werden, entstehen, und die Menschen zucken mit den Achseln. Und reagieren mit der ausgesprochenen oder unausgesprochenen Ansicht: „Stammesmentalität, schwierig, etwas dagegen zu tun.“. Die afrikanischen Probleme aber haben, wie die aller anderen Völker in der Geschichte, wirtschaftliche, politische und soziale Wurzeln, sie sind historisch entstanden, nicht biologisch.

Ngugi Wa Thiong’o: Afrika sichtbar machen! Essays über Dekolonialisierung und Globalisierung, Unrast-Verlag Münster 2019, S. 29-43 (hier S. 33, S38f., gekürzt und leicht bearbeitet).

Aufgaben (M5c)

  1. Arbeiten Sie die Unterscheidung zwischen „historisch“ und „biologisch“ heraus, die Thiong’o hier entwickelt.
  2. Stellen Sie die Folgen dar, die der Begriff „Stamm“ für die Wahrnehmung Afrikas aber auch für das konkrete Handeln hat.

Sprachkritik: Herunterladen [docx][43 kB]