Mat. 2: Ágnes Heller: Die Funktion der Freude (1978/2020)
Die primäre Wertorientierungskategorie gut-schlecht kann bei jedem Gefühl ohne Ausnahme, angewandt werden, und sie kann alle anderen – sekundären – Orientierungskategorien [angenehm-unangenehm; gut-böse; schön-hässlich; wahr-falsch; richtig-unrichtig] ersetzen (sie kann mit ihnen vertauscht werden). Man kann sagen, dass jemand es recht gut gespürt hat, was er tun soll (er hat es richtig gefühlt), dass die Verzeihung ein gutes Gefühl ist (moralisch gutes Gefühl), dass „ich mich auf dem Ausflug gut fühlte“ (angenehm), dass „er sich gut beherrscht hat“ (es ist ihm gelungen, sich zu beherrschen). Ebenso in negativer Hinsicht: „Die Eifersucht ist ein schlechtes Gefühl“; sie kann unangenehm, böse, schädlich sein. (Alle können durch „schlecht“ ersetzt werden.)
Wegen dieser besonderen Funktion der Wertorientierungskategorien “gut-schlecht“ sagt man oft von einem Gefühl, dass es „auch gut und auch schlecht“ ist. Wo Gewissensbisse moralisch positiv beurteilt werden, dort sagt man, dass das Gefühl auch gut und schlecht ist (da es moralisch gut, aber unangenehm ist). Wo jedoch der Sexualaffekt für Sünde gehalten wird, dort wird das beim Affekt auftretende Gefühl gerade „in umgedrehter Richtung“ als gut und schlecht zugleich beurteilt: Man hält es für angenehm, jedoch für böse. Das ist natürlich nicht mit den Fällen zu verwechseln, wo wir etwas „mit gemischten Gefühlen“ tun oder entgegennehmen: Dann ist nämlich nicht dasselbe Gefühl zugleich gut und böse, sondern es werden auf dasselbe Objekt unterschiedliche – von uns gegensätzlich beurteilet – Gefühle bezogen.
Es existieren jedoch zwei Gefühle, auf die wir in erster Linie die primäre Orientierungskategorie anwenden und bei denen die sekundären Orientierungskategorien (nicht einmal alle) lediglich eine einschränkende Funktion haben. Es handelt sich um das Gefühl der Freude und der Traurigkeit (nicht der Lust und Unlustaffekt). Warum?
Rufen wir die ersten drei Typen der Freude-Emotion in Erinnerung, also die Freude als Erreichen des Zieles, die Freude als Wunscherfüllung, die Freude als erfolgreiche Verwirklichung des Willens (wir haben dies bisher nicht analysiert, wollen aber jetzt bemerken: Ihre negativen Pole sind auch die Hauptformen der Traurigkeit). Spinoza1 schreibt in der Ethik: „Unter Freude verstehe ich also im Folgenden die Leidenschaft, wodurch der Geist zu größerer Vollkommenheit übergeht, unter Traurigkeit aber die Leidenschaft, wodurch er zu geringerer Vollkommenheit übergeht.“ Freude ist also das Gefühl, das – wann und in welcher Hinsicht es auch je in Erscheinung tritt – anzeigt, dass ich mein Ich erweitert habe , die Traurigkeit aber – in welcher Beziehung auch immer ich sie fühle – zeigt den Misserfolg der Erweiterung meines Ichs an, die Tatsache, dass mein Ich eingeengt wurde. Diese Emotionen sind also aus der Hinsicht der sozialen Homöostase2 (der Grundfunktion der Gefühle) immer eindeutig, obwohl sie über keinerlei natürliche Basis verfügen. Freude und Traurigkeit sind reflexive Gefühle, die Reflexion bezieht sich auf den Erfolg oder Misserfolg der Ich-Erweiterung. Deshalb halten wir auch die Freude für ein par excellence gutes, die Traurigkeit für ein par excellence schlechtes Gefühl.
Aber wie gesagt: Die sekundären Wertorientierungskategorien haben (in erster Linie die Kategorien des Guten und Bösen) eine einschränkende Funktion bezüglich Freude und Traurigkeit. Die jeweiligen Normen schreiben nämlich ethisch immer vor, wann man sich nicht freuen darf . So beurteilen wir die Schadenfreude negativ (als Böses), so wie alle konkreten Freudegefühle, zu denen man durch Verletzung moralischer Normen gelangte. Bestimmte Ziele, Lebensformen, Wünsche können als Quelle der Freude optiert werden, solange man andere als Freudenquelle missbilligt. Aber eine ethische Norm oder Regulation, die die Negation des Freudegefühls zum Prinzip gemacht, die die Freude als solche für Böses qualifiziert, gab es nie und konnte es auch nicht geben. (Wohingegen es Zeiten und gesellschaftliche Schichten gab, die Begeisterung, den Enthusiasmus als schädliche Leidenschaft, die Solidarität als Sünde, den blinden Glauben oder die Rachsucht als Tugend eingeschätzt haben.) Die Funktion unterschiedlichster Gefühle ist die Erweiterung des sozialen Organismus (Leitung seiner Objektivierung, seiner Selbstverwirklichung, seines Aneignungsprozesses); die primäre Funktion der Freude-Emotion ist zu signalisieren: So war es richtig, nur so weiter, nochmal; deshalb ist sie das „gute“ Gefühl. (S. 184 f.)
1 Spinoza, (1632-1677), holländischer Philosoph, der in seinem Hauptwerk, der „Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt“, drei von fünf Kapitel einer systematischen Darstellung der Affekte, ihrer Entstehung, ihrer Macht und dem Umgang mit ihnen widmet.
2 Homöostase (altgriechisch ὁμοιοστάσις homoiostásis, deutsch ‚Gleichstand‘) bezeichnet einen Gleichgewichtszustand eines offenen dynamischen Systems, der durch einen internen regelnden Prozess aufrechterhalten wird. Sie ist damit ein Spezialfall der Selbstregulation von Systemen. Der Begriff wird in zahlreichen Disziplinen wie zum Beispiel in der Physik, Chemie, Biologie, Ökologie, in der Soziologie, der Psychologie, der Sportwissenschaften, der Medizin u.a. angewendet.
Fachliches
Ágnes Hellers Monographie von 1978 (mit einem neuen Vorwort zur zweiten Auflage der deutschen Version von 2020) ist eine der frühesten und umfassendsten philosophischen Theorien des Gefühls. Die Besonderheit dieses Ansatzes besteht darin, dass er einen phänomenologisch geschulten Blick verbindet mit einer durch den späten Wittgenstein geschulten Aufmerksamkeit auf begriffliche Unterscheidungen unserer normalen Sprache sowie einem durch Karl Marx inspiriertem Interesse an historisch-sozialen Kontexten der Entstehung und Formierung von Gefühlen; außerdem verortet Ágnes Heller ihre philosophische Reflexion auf die Natur und Funktion von Gefühlen immer wieder mit Bezugnahme auf empirische Disziplinen, insbesondere der Psychologie und der Neurowissenschaften. Zwar deckt sich ihre Terminologie nicht mit derjenigen der aktuellen Emotionstheorien, doch zielen ihre konkreten und beispielgesättigten Beschreibungen sowie ihre Argumente auf Probleme und Positionen, wie sie auch aktuell vertreten werden; so werden Thesen von A. Damasio (Der Spinoza-Effekt), A. Ehrenberg (Das erschöpfte Selbst), M. Nussbaum (Upheavals of Thought, 2001) und Christine Tappolet (Emotions, Values, and Agency, 2016) vorweggenommen.
Didaktisches
vorausgehend: keine Voraussetzungen
nachfolgend: Modul 2 Was ist Stolz? (D. Hume)
Bildungsplanbezug: Philosophie des Geistes
Lernziele: Die Schülerinnen und Schüler können
- Funktionen von Gefühlen benennen;
- problemerschließende Fragen stellen;
- systematisierende Überlegungen anstellen;
- unterschiedliche Funktionen und eine Hierarchie von Gefühlen (Basis-G./reflexive G.) unterscheiden;
- eine philosophische Position mit einem aktuellen Forschungsbericht vergleichen;
- Hindernisse beim Lesen-Lernen von Emotionen diskutieren (Á. Heller Supplement)
Methodisches (pbKs)
- Implikationen eines Zitats darlegen nach Positionierung
- eigene Problemerschließung abgleichen mit der Systematik der Inhaltsangabe einer philosophischen Monographie
- Textgliederung und Argumentanalyse zur Funktionsbestimmung von Gefühlen
- Transfer (1) durch Beurteilung der Aktualität und Relevanz einer philosophischen Position im Vergleich mit einem Forschungsbericht
- Transfer (2) durch Prüfung einer soziologische Hypothese (E. Illouz)
- Horizonterweiterung durch Reflexion über Spezialfälle des Lernens und Verstehens (Hermeneutik) von Gefühlen (z.B. Verbergen/Heucheln von Gefühlen)
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