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Ver­tie­fungs­mög­lich­keit 1: Ágnes Hel­ler: Ver­ste­hen der Ge­füh­le

Füh­len ler­nen be­deu­tet von An­fang an zu­gleich, die Ge­füh­le lesen zu ler­nen. Und das ist eine stän­di­ge Auf­ga­be. Man kann nie sagen: „Ich weiß es“, höchs­tens: „Ich weiß es schon bes­ser.“ Drei Fak­to­ren stel­len uns immer vor neue Auf­ga­ben: das „Für-Sich-Be­hal­ten“ der Ge­füh­le, das „echte“ bzw. „un­ech­te“ So­sein der Ge­füh­le sowie die Heu­che­lei, also drei grund­sätz­lich un­ter­schied­li­che Er­schei­nun­gen.

So­fern wir Af­fek­te „für uns be­hal­ten“, wer­den da­durch Emo­tio­nen ent­ste­hen, die un­be­dingt ex­pres­siv sind, wenn auch oft auf idio­syn­kra­ti­sche Weise. Die ver­dräng­te Wut oder der ver­dräng­te Ekel wird aus­ge­drückt. Falls wir je­man­den ei­ni­ger­ma­ßen ken­nen, „sehen“ wir schon an ihm, wann er die Wut, wann die Furcht, und wann die Scham be­herrscht. Bei den „für uns be­hal­te­nen“ rei­nen Emo­tio­nen ist dies aber nicht der Fall. Hier kann der Emo­ti­ons­aus­druck so viel­fach ver­mit­telt wer­den (er kann sogar aus­blei­ben), dass sein „Lesen“ un­mög­lich wird. Es kommt nicht sel­ten vor, dass der Mensch, der seine Emo­tio­nen „für sich be­hielt“, uns un­glaub­wür­dig er­scheint, wenn er sie uns spä­ter mit­teilt. X sagt Y: „Ich bin vor Jah­ren in dich ver­liebt ge­we­sen.“ Die Ant­wort von Y kann lau­ten: „Das glaub ich nicht! Du hast es doch gar nicht ge­zeigt.“ Und die Ent­geg­nung von X: „Ich woll­te es doch nicht zei­gen, um dich mit mei­nen Ge­füh­len nicht zu stö­ren!“ – kann als glaub­wür­dig an­ge­nom­men wer­den, ob­wohl kei­ner­lei Be­weis dafür exis­tiert, dass die Aus­sa­ge tat­säch­lich au­then­tisch ist. Oder X sagt zu Y: „Ich fühl­te mich stark ge­trof­fen durch das, was du mir ge­sagt hast.“ Die Ant­wort von Y lau­tet: „Das sah man dir aber über­haupt nicht an!“ Die Ent­geg­nung von X: „Ich woll­te es doch vor Frem­den nicht zei­gen“, könn­te als glaub­wür­dig an­ge­nom­men wer­den, ob­wohl wir auch hier kei­ner­lei Be­wei­se dafür haben, dass sie au­then­tisch ist. Es hängt von ver­schie­de­nen Fak­to­ren ab, ob der Emp­fän­ger der Mit­tei­lung (in die­sem Fall Y) die Aus­sa­ge für au­then­tisch oder nicht-au­then­tisch hält, unter an­de­ren von der Men­schen­kennt­nis . Wenn er X als einen auf­rich­ti­gen Men­schen ken­nen­ge­lernt hat, dann wird er die Aus­sa­ge für au­then­tisch hal­ten. Auch dann, wenn die Aus­sa­ge von X sei­ner Ei­tel­keit ent­ge­gen­kommt. Falls Y aber von Natur aus miss­trau­isch ist, dann nicht.

Die Un­ter­schei­dung zwi­schen ech­ten und un­ech­ten Emo­tio­nen ist in einem viel brei­te­ren Um­kreis von Kon­tak­ten wich­tig und ist eben­so be­züg­lich der Her­aus­ge­stal­tung un­se­rer Ant­wort­ge­füh­le wie un­se­res Ver­hal­tens (Be­neh­mens) von ent­schei­den­der Be­deu­tung. „Echt“ nen­nen wir die Emo­tio­nen, die un­se­ren emo­tio­nel­len Cha­rak­ter und be­son­ders un­se­re emo­tio­nel­le Per­sön­lich­keit aus­zu­drü­cken ver­mö­gen; „un­echt“ nen­nen wir die Ge­füh­le, die ent­we­der in kei­ner or­ga­ni­schen Ver­bin­dung mit un­se­rem emo­tio­nel­len Cha­rak­ter ste­hen oder ihm wi­der­spre­chen. Wir er­in­nern an die, von Dos­to­je­w­ski so oft dar­ge­stell­te „un­red­li­che Reue“. Dies ist zwei­fels­oh­ne eine exis­tie­ren­de Emo­ti­on, und zu­gleich eine eben­so „un­ech­te“. In dem Mo­ment, in dem man sie fühlt, fühlt man sie tat­säch­lich, die Ge­fühls­ex­pres­sio­nen sind auch au­then­tisch; da sie aber nicht dem emo­tio­nel­len Cha­rak­ter ent­stammt und ihn wie­der­um nicht än­dern kann, scheint es, als ob sie über­haupt nicht exis­tiert hätte. Der­je­ni­ge, der die „un­ech­te Reue“ für „echt“ hält, wird sich zu dem „un­echt“ Reu­en­den der­art ver­hal­ten, als ob sein Ver­hal­ten eine Wir­kung auf die zu­künf­ti­ge Ent­wick­lung der Per­sön­lich­keit hätte, und damit gibt er sich und an­de­re Ri­si­ken (zu­meist mo­ra­li­scher Art) preis. Jeder weiß, dass es auch „un­ech­te“ Ver­zei­hung gibt; je­mand ver­zeiht dem an­de­ren unter Trä­nen, um ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter seine Rach­sucht zu neuem Leben zu er­we­cken. Auch die Rach­sucht kann „un­echt“ sein: Nach we­ni­gen Se­kun­den ver­zeiht man oder ver­gisst; „un­echt“ kann auch die Ei­fer­sucht sein usw. Be­son­ders häu­fig tref­fen wir „un­ech­te“ Ge­füh­le bei Men­schen an, die emo­tio­nel­len Kli­schees fol­gen, ent­we­der in po­si­ti­ver oder in ne­ga­ti­ver Hin­sicht. Diese „un­ech­ten“ Ge­füh­le kön­nen sogar sehr dau­er­haft sein und ihre Un­echt­heit, der Um­stand näm­lich, dass man auf sie nicht bauen kann, stellt sich bloß in Kri­sen oder Grenz­si­tua­tio­nen her­aus.

Die Heu­che­lei hat (zu­min­dest als reine Heu­che­lei) mit den oben ana­ly­sier­ten Pro­zes­sen nichts zu tun. Bei dem Heuch­ler be­steht näm­lich eine Dis­kre­panz, oft sogar ein Wi­der­spruch zwi­schen dem Ge­fühl und dem Ver­hal­ten (der Ex­pres­si­on), aber auf die Weise, dass das Ge­fühl vom Ver­hal­ten (der Ex­pres­si­on) nicht bloß ein­fach „ver­deckt“, son­dern ein nicht vor­han­de­nes Ge­fühl vor­ge­lo­gen wird. Die Reue des Heuch­lers ist keine „un­red­li­che Reue“, son­dern ihr Vor­täu­schen mit Hilfe der Ma­ni­pu­lie­rung der Reue-Ex­pres­si­on – wofür ei­ni­ge schau­spie­le­ri­sche Fä­hig­kei­ten er­for­der­lich sind. Die Heu­che­lei hat noch eine Ei­gen­art: Sie be­zieht sich immer auf das mo­ra­lisch Gute , zu­min­dest dar­auf, was wir für mo­ra­lisch Gutes hal­ten. Man kann die für gut und böse be­fun­de­nen Ge­füh­le glei­cher­ma­ßen „für sich be­hal­ten“. Un­se­re „un­ech­ten“ Ge­füh­le kön­nen gut oder schlecht sein, es gibt je­doch nie­man­den, des­sen Heu­che­lei sich auf die Ex­pres­si­on eines von ihm (aber be­son­ders von dem Norm­sys­tem) für schlecht ge­hal­te­nen Ge­fühls be­zie­hen würde. Nie­mand ist nei­disch oder bös­wil­lig aus blo­ßer Heu­che­lei.

Im Er­ler­nen des Emo­ti­ons-Le­sens kommt der Fä­hig­keit, die Heu­che­lei er­ken­nen zu kön­nen, eine be­son­de­re Be­deu­tung zu. Es ist auch aus die­ser Hin­sicht ge­fähr­lich, wenn das Ei­tel­keits­ge­fühl bei je­man­dem zu emo­tio­nel­ler Ge­wohn­heit wird. Der eitle Mensch wird dem Heuch­ler ge­gen­über schutz­los, da er sich gegen Schmei­che­lei nicht weh­ren kann. Auch Tu­gen­den kön­nen die Un­ter­schei­dung von heuch­le­ri­schen und ehr­li­chen Ex­pres­sio­nen er­schwe­ren: Star­kes Ver­trau­en wird oft be­tro­gen.

Ob­wohl das „Für-sich-Be­hal­ten“ der Ge­füh­le, ihr „ech­tes“ und „un­ech­tes“ So­sein, fer­ner die emo­tio­nel­le Heu­che­lei drei ver­schie­de­ne Ver­hal­tens­wei­sen sind, kön­nen sie oft mit­ein­an­der ver­knüpft sein. Dies er­schwert wie­der­um be­trächt­lich das Lesen der Ge­fühls-Aus­drü­cke und das Ver­ste­hen ihrer Be­deu­tung. Je­der­mann muss die Zei­chen der „ver­deck­ten“ Emo­tio­nen ei­ni­ger­ma­ßen er­ler­nen, nie­mand kann sie aber mit völ­li­ger Si­cher­heit lesen. Ist schon das Lesen jedes emo­tio­nel­len Zei­chens ris­kant, so geht das Lesen der Zei­chen von „ver­deck­ten“ Ge­füh­len mit dop­pel­tem Ri­si­ko ein­her. Wie man über­haupt nicht ri­si­ko­frei füh­len ler­nen kann, so kann man auch das Lesen der Ge­fühls­aus­drü­cke nicht ohne Ri­si­ken er­ler­nen.

Aus: Ágnes Hel­ler (2020), Theo­rie der Ge­füh­le, S. 174 ff.

Phi­lo­so­phie der Ge­füh­le: Her­un­ter­la­den [docx][88 kB]

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