Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Chamissos Geschichte vom Peter Schlemihl gilt als einer der größten literarischen Erfolge des 19. Jahrhunderts. Mit ca. 200 Einzelausgaben und zahllosen Übersetzungen erreichte der Text eine ungeheure Breitenwirkung und ist bis heute fester Bestandteils des Literaturkanons. Die Gründe dafür liegen darin, dass Chamissos Novelle einen zentralen Beitrag zur Bewusstseinsbildung des sich emanzipierenden Bürgertums seiner Zeit darstellt und das Selbstverständnis eines ökonomisch handelnden Menschen im Spannungsfeld von Geld und Geist nachhaltig prägt. Da er modellhaft Kapitalvermehrung und Bewahrung eines humanitären Wesenskerns des Einzelnen miteinander vermittelt, setzt er den Maßstab einer bis heute fortwirkenden bürgerlich-unternehmerischen Grundhaltung.
Mit seiner Novelle, die zwischen Mai und Oktober 1813 entstanden ist, knüpft Chamisso an das in der Romantik entstandene Bewusstsein der Historizität gesellschaftlicher Gegebenheiten an. Im empirischen Sensualismus der französischen Aufklärung verankert, analysiert die Novelle ihre Zeit im Spannungsverhältnis von Stagnation und sozialem Wandel. Sie betrachtet einerseits das Bürgertum als treibende Kraft des gesellschaftlichen Fortschritts, sieht jedoch andererseits auch die dunklen Seiten eines sich verselbständigenden Kapitalismus. Die emanzipatorische Bedeutung der Geldwirtschaft findet in drei aus der Volksmärchentradition stammenden Motiven ihren Ausdruck: Da ist erstens das Geldsäckel, das für die Geldvermehrung steht; zweitens sind da die Siebenmeilenstiefel; sie repräsentieren Mobilität bzw. Expansion; als drittes lässt sich das unsichtbar machende Vogelnest anführen; es steht für Flexibilität. Alle drei Motive sind auf Entgrenzung, Beweglichkeit und Handlungsmacht ausgerichtet. Ebenfalls durch die volkstümliche Überlieferung angeregt präsentiert sich die Figur des Grauen, der allerlei in der Tasche hat und bei Chamisso als Verführer diabolische Züge erhält und sich mit dem Teufelspakt-Motiv aus der Faustsage verknüpfen lässt. Das zentrale Motiv des Schattens, obgleich konkret durch eine Aussage Fouqués bei einer Fußreise angeregt („Ich hatte auf einer Reise Hut, Mantelsack, Handschuhe, Schnupftuch und mein ganzes bewegliches Gut verloren; Fouqué frug, ob ich nicht auch meinen Schatten verloren habe? Und wir malten uns das Unglück aus“, Chamisso an Bernhard von Trinius, 11.4. 1829), geht auf den Volksglauben zurück, dass schattenlose Personen sich mit Geistern oder gar dem Teufel eingelassen hätten. Der Schatten wurde hierbei als Honorar für den Teufelsdienst verstanden. Die Vorstellung, die Schattenlosigkeit enthülle einen Verbrecher oder eine schuldhafte Person, entspricht diesem Verständnis.
Peter Schlemihl ist ein erstes Opfer des im frühen 19. Jahrhundert an Fahrt aufnehmenden materiellen Denkens und seiner Entfremdungen. Chamissos Novelle knüpft somit an die Unsicherheiten des Bürgertums in einer Zeit expandierender Kapitalwirtschaft und sich rasant entwickelnder Industrieproduktion an und nimmt den zentralen Konflikt von materieller und moralischer Orientierung in den Blick. Schlemihl glaubt, mit Kapital Macht über sein Leben und seine Mitmenschen zu erlangen, während doch das Kapital beim Eintritt in die Gesellschaft (Herrn Johns) in Gestalt des Grauen vielmehr Macht über ihn gewinnt. Seine einseitige Orientierung an materiellem Reichtum, von dem er sich die Erfüllung all seiner Wünsche erhofft, resultiert wider Erwarten in einer fundamentalen Entfremdung von der menschlichen Gesellschaft. Schlemihls Geschichte wird so zur Warnung vor den Folgen einer obsessiven Fixierung auf Materielles: Indem er exemplarisch die unbegrenzte Geldvermehrung an den Verlust gesellschaftlicher Anerkennung koppelt (Schattenlosigkeit), zeigt Chamisso auf, wie die einseitige (irrationale) Orientierung am Materiellen nicht nur aus der bürgerlichen Wertordnung hinausführt, sondern auch den Verlust persönlicher Integrität und Humanität nach sich zieht. Ist im ersten Teil der Novelle das Gleichgewicht von individuellen Interessen und sozialer Norm beim superreichen und gesellschaftlich isolierten Schlemihl noch empfindlich gestört, zeigt Chamisso im zweiten Teil ein Harmonisierungsmodell auf, indem der den materiellen Verführungen des Geldes zugunsten seiner seelischen Integrität entsagenden Schlemihl nun als Naturforscher der Gesellschaft mit seinem Vermächtnis dient, Bendel seinen Reichtum in den Dienst Notleidender stellt und Mina im christlichen Dienst am Menschen aufgeht. Schlemihl durchläuft einen schmerzhaften Erkenntnisprozess: Das Opfer externer Gratifikationsangebote bzw. der sozial entfremdete Einzelne wird zum verantwortlich handelnden Subjekt, das seine seelische Integrität zum Maßstab seines Handelns macht. Das Beispiel Bendels zeigt zudem, dass Geldanhäufung nicht nur negative Aspekte hat, sondern durch eine humane Grundeinstellung zum Segen der Allgemeinheit eingesetzt werden kann. Es ergeht mithin die Aufforderung an die Leserschaft, sich der sozialen Verantwortung des Menschen bewusst zu sein und das eigene Handeln nicht auf egoistische Einzelinteressen auszurichten, sondern zum Wohle der Gemeinschaft einzusetzen.
Der Name der Hauptfigur (Schlemihl) geht zurück auf eine Gestalt aus der talmudischen Überlieferung. Er bedeutet im Hebräischen „Gottlieb, Theophil oder aimé de Dieu“ (Chamisso in einem Brief vom 17.3.1821) und bezeichnet einen ungeschickten Menschen bzw. Pechvogel, dem nichts im Leben gelingt.
Dem Erzähltext als Vorspann vorangestellt sind vier kürzere Texte (Vorworte in Form von Briefen und ein Gedicht), die spielerisch auf geistige Urheberschaften verweisen, eine doppelte Herausgeberschaft fingieren und durch die Distanzierung des Erzählers Chamisso von seinem Freund Schlemihl den Kunstcharakter der Erzählung betonen. In Chamissos Gedicht an seine Hauptfigur (1) weist er stolz darauf hin, dass er anders als diese, den Verführungen des Geldes, verkörpert in der Figur des Grauen, nie erlegen sei. In seinem Brief an Hitzig (2) gibt Chamisso vor, Schlemihl selbst habe seine Geschichte bei ihm abgegeben; in Fouqués Vorwort (3) stellt sich dieser als Herausgeber vor und in einem Dankschreiben Hitzigs (4) verweist dieser auf den Erfolg des Buches und betont u.a. die positive Aufnahme durch E.T.A. Hoffmann.
Die Deutung der wundersamen Geschichte Peter Schlemihls ist maßgeblich bestimmt von der Bedeutung seiner Schattenlosigkeit. Allen Erklärungsansätzen gemeinsam ist die Feststellung, dass es sich dabei um einen für die gesellschaftliche Existenz katastrophalen Mangel handelt. Von dieser Basis ausgehend werden folgende Thesen in Ansatz gebracht. Der Schattenverlust stehe für:
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das Fehlen der bürgerlichen Existenzberechtigung (Thomas Mann)
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die nicht vorhandene „bürgerliche Solidität und menschliche Zusammengehörigkeit“ (Benno von Wiese)
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die „Entfremdung des einzelnen gegenüber der frühkapitalistischen Gesellschaft“ (Winfried Freund)
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die Schuld, „durch Verabsolutierung des Geldes die bürgerliche Synthese von Geld und Moral, Materie und Geist … verspielt zu haben.“ (Walter R. Berger)
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den Verlust der Identität (Erwin Loeb)
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den Verlust des Selbstbezugs und des Bezugs zur Außenwelt (Volker Hoffmann)
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„alles, was den Einzelnen plötzlich aus der Gemeinschaft mit den anderen ausschließt“ (Peter von Matt)
Unstrittig sind die Befunde im Hinblick auf die in Chamissos Novelle erkennbare Gesellschaftskritik: „Sinnbildlich für die kapitalistische Warenwelt, deren erstes Ziel die Erfüllung materieller Wünsche, das Haben- und Besitzen wollen ist, steht die Gesellschaft des Herrn John.“ (Schlitt, 2008). In dieser Gesellschaft steht das Äußere über allem, der schöne Schein regiert das Sein und macht innere Werte bedeutungslos. So redet man „von leichtsinnigen Dingen wichtig, von wichtigen öfters leichtsinnig“.
In einer Gesellschaft, in der das Wichtige und das Unwichtige gleichberechtigt nebeneinander stehen, drohen selbst die Wertmaßstäbe, nach denen die Welt und die Dinge beurteilt werden, verloren zu gehen. Es entsteht eine innere Leere, ein mentales Rauschen, das durch die Konsumgüter und äußeren Scheinwelten, in denen sich die Gesellschaft bespiegelt, kompensiert wird. Vollkommen ist der Sieg des Äußeren, wenn auch – wie in den Worten Herrn Johns – Reichtum mit Moral gleichgesetzt wird: „»Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million«, so schwadronierte John, »der ist, man verzeihe mir das Wort, ein Schuft!«“
Schlemihl als Außenstehender – naiv, staunend, unvertraut mit dem sich bietenden Schauspiel – verkörpert demgegenüber den unschuldigen und innerlich intakten Menschen, der auf Äußerlichkeiten, Besitz und Konsum wenig Wert legt. Dass er sich mit dieser ihm fremden, künstlichen Welt der Oberflächlichkeit und des Konsums nicht anfreunden kann und dass er die Gesellschaft, die er nicht versteht, wieder verlassen will, belegt dies eindrücklich. So ist ihm die mysteriöse Figur des Grauen, die auch in der unwissenden Gesellschaft unerkannt bleibt („Den kenn‘ ich nicht!“) von Beginn an suspekt. Dessen „blasse Erscheinung“ wird ihm „schauerlich“, sodass er „sie nicht länger ertragen konnte“. Der Beschluss, sich „aus der Gesellschaft zu stehlen“, wird allerdings durch die mephistophelische Figuration der materiellen Verlockung und Wunscherfüllung durchkreuzt, indem er durch sein Angebot Begehrlichkeiten weckt. Schlemihl tritt in einer Art „negativer Initiation“ (Brüggemann 1999) in die bürgerlich-kapitalistische Warenwelt ein. Das Schicksal nimmt seinen Lauf. Das Besitzdenken und die Illusion, durch Reichtum auf Kosten innerer Wahrhaftigkeit und Autonomie Glückseligkeit zu erlangen, okkupiert Schlemihls Denken. Dieses hat auch bereits von anderen Figuren Besitz ergriffen. Wenn etwa der Förster nicht zögert, seine Tochter Mina mit dem Schurken Rascal zu verheiraten, nur weil dieser aufgrund seines Vermögens und Schattens passend erscheint, deutet dies auf eine den humanen Verstand besetzende Ökonomisierung des Denkens.
Chamisso: „Schlemihl“: Herunterladen [pdf][198 KB]
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