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Li­te­ra­tur­wis­sen­schaftl. Ein­ord­nung & Deu­tungs­per­spek­ti­ven

Hand­ke selbst äu­ßer­te sich zur Deu­tung sei­nes Kas­par: „Im Kas­par Hau­ser ent­deck­te ich das Mo­dell einer Art von sprach­li­chem My­thos. [...] Die­ser Kas­par Hau­ser er­schien mir [...] als ein Mo­dell von Men­schen, die nicht zu­recht kom­men mit sich sel­ber und der Um­welt, sich iso­liert füh­len.“ (Jo­seph 1969) Ent­spre­chend des an­ge­streb­ten Mo­dell­cha­rak­ters bleibt Kas­par als Figur abs­trakt und ohne in­di­vi­du­el­le mensch­li­che Züge, was sze­nisch da­durch zum Aus­druck ge­bracht wird, dass sein Ge­sicht eine Maske ist.

Zwar nutzt Hand­ke Ele­men­te des his­to­ri­schen Stof­fes, wie er durch An­selm Rit­ter Feu­er­bachs Be­richt Kas­par Hau­ser, Bei­spiel eines Ver­bre­chens am See­len­le­ben des Men­schen ver­mit­telt wird, letzt­lich geht es ihm aber nicht darum zu zei­gen, wie ES WIRK­LICH IST oder WIRK­LICH WAR mit Kas­par Hau­ser“, son­dern „was MÖG­LICH IST mit je­man­dem“, der durch eine Art „,Sprech­fol­te­rung´“ zum Spre­chen ge­bracht wird. Der So­zia­li­sa­ti­ons­pro­zess Kas­pars wird al­lein auf den Sprach­er­werb und die damit mög­lich wer­den­de An­eig­nung der Ge­gen­stän­de, die seine Um­welt aus­ma­chen, be­zo­gen. An­ders als beim his­to­ri­schen Kas­par Hau­serspie­len zwi­schen­mensch­li­che Be­zie­hun­gen bzw. eine in­ter­per­so­na­le Kom­mu­ni­ka­ti­on keine Rolle.

Ähn­lich wie der his­to­ri­sche Kas­par Hau­ser ist auch Hand­kes Figur mit einem ein­zi­gen Satz aus­ge­stat­tet, wenn er die Bühne be­tritt. Kas­pars Satz „ich möch­te ein sol­cher wer­den wie ein­mal ein and­rer ge­we­sen ist“ er­in­nert noch an den Satz des his­to­ri­schen Kas­par, der bei sei­nem Auf­tau­chen in Nürn­berg den Satz äu­ßer­te: „I möch­te ä söchä­na Rei­ter wären, wie mei Vater gwän is.“ (Hö­risch 1970) [Ich möch­te ein sol­cher Rei­ter wer­den, wie mein Vater einer ge­we­sen ist.] In sei­ner ab­stra­hie­ren­den Ab­wand­lung lenkt der Satz den Fokus auf ein zen­tra­les Thema des Stü­ckes, näm­lich den Ver­such der Ich-Kon­sti­tu­ti­on, für die der Sprach­er­werb die Be­din­gung ist. Die Spra­che er­mög­licht es Kas­par nicht nur, sich die Dinge in sei­ner Um­welt ver­füg­bar zu ma­chen und eine Ord­nung her­zu­stel­len, er wird durch die Spra­che auch auf sich selbst auf­merk­sam und ge­langt schließ­lich zu einer Art Selbst­er­kennt­nis.

Je­doch ge­schieht die sprach­li­che So­zia­li­sa­ti­on Kas­pars durch einen Ge­walt­akt. Die Ein­sa­ger, deren Spre­chen durch tech­ni­sche Me­di­en ent­frem­det und ent­per­so­na­li­siert wird, zwin­gen Kas­par Mo­dell­sät­ze auf, deren In­ten­ti­on es nicht ist, In­hal­te oder einen Sinn zu ver­mit­teln, son­dern die die Un­ter­wer­fung unter eine Ord­nung an­stre­ben. Ent­spre­chend wird Kas­par – und an des­sen Stel­le in der Pause der Zu­schau­er – sinn­lo­sen Phra­sen und Kli­schees aus­ge­setzt, die zum Ziel haben, seine In­di­vi­dua­li­tät zu zer­stö­ren bzw. gar nicht erst zu er­mög­li­chen. Kas­pars Sprach­er­werb ist daher am­bi­va­lent: er er­mög­licht ihm zu­nächst einen Zu­gang zur Welt und sich selbst und ver­hin­dert an­ge­sichts der Phra­sen­haf­tig­keit und Sinn­lee­re gleich­zei­tig jeg­li­che au­then­ti­sche Er­fah­rung. Die Ein­sa­ger wol­len Kas­par sei­nen Satz aus­trei­ben und ihm eine Spra­che ver­mit­teln, die keine Ge­schich­te kennt und keine Fra­gen auf­wirft. Damit stre­ben sie Kas­pars Ent­in­di­vi­dua­li­sie­rung und frag­lo­se Ak­zep­tanz der durch die Spra­che vor­ge­ge­be­nen, auch ge­sell­schaft­li­chen Ord­nung an. Ohne eine Ge­schich­te ge­lingt es Kas­par letzt­lich nicht, eine Iden­ti­tät zu kon­sti­tu­ie­ren, was in der mehr­ma­li­gen Wie­der­ho­lung des zur Tau­to­lo­gie er­starr­ten Bibel-Zi­tats „Ich bin, der ich bin“ eben­so deut­lich wird wie in der Mul­ti­pli­ka­ti­on der wei­te­ren Kas­pa­re.

Kas­par er­kennt die Sinn­lo­sig­keit der sprach­li­chen Flos­keln: „Jeder Satz / ist für die Katz“. Er ist mit sei­nem ers­ten über­nom­me­nen Satz „in die Falle ge­gan­gen“ und hat sich der auf­ok­troy­ier­ten Ord­nung er­ge­ben. Al­ler­dings gibt es Au­gen­bli­cke, in denen es Kas­par ge­lingt, sich den Ein­sa­gern und ihrer er­starr­ten Spra­che zu wi­der­set­zen, näm­lich dann, wenn er seine Ver­un­si­che­rung in Fra­gen aus­drückt. Auf dem Hö­he­punkt der exis­ten­ti­el­len Ver­un­si­che­rung fragt Kas­par plötz­lich: „Warum flie­gen da lau­ter so schwar­ze Wür­mer herum?“, womit das Un­be­wuss­te und Un­heim­li­che, das sich der Spra­che der Ein­sa­ger ent­zieht, eben­so Ein­zug hält wie eine an­de­re, poe­tisch an­mu­ten­de Spra­che. Letzt­lich ge­lingt es Kas­par aber nicht, eine ei­ge­ne, au­then­ti­sche Spra­che zu er­lan­gen. Er bleibt den Sprach­fet­zen der Ein­sa­ger aus­ge­lie­fert und fällt am Ende in eine pri­mi­ti­ve Be­wusst­seins- und Sprach­stu­fe zu­rück, wenn er nur noch me­cha­nisch die Wör­ter „Zie­gen und Affen“ wie­der­holt. Das Zitat aus Shake­speares Ot­hel­lo er­hält in der deut­schen Über­set­zung eine zu­sätz­li­che Be­deu­tung, indem der erste und letz­te Buch­sta­be des Al­pha­bets mar­kiert wer­den, womit als Pars pro toto die ge­sam­te Spra­che der Lä­cher­lich­keit ver­däch­tigt wird.

Ab­ge­se­hen von der sprach­phi­lo­so­phi­schen The­ma­tik, die vor allem auf Witt­gen­steins Ideen zum Sprach­spiel zu­rück­greift, dem Pro­blem­feld der Ich-Kon­sti­tu­ti­on sowie dem Ver­gleich mit der his­to­ri­schen Figur Kas­par Hau­ser wurde Hand­kes Text auch psy­cho­ana­ly­tisch ge­le­sen und bei­spiels­wei­se die Ab­we­sen­heit bzw. Ver­wer­fung der Va­ter­fi­gur als ödi­pa­ler In­zest­wunsch ge­deu­tet.

Text­aus­ga­ben:

Peter Hand­ke: Kas­par. Frank­furt a. M. 1967 (1968).

Peter Hand­ke: Kas­par. In: Ders.: Die Thea­ter­stü­cke. Frank­furt a. M. 1992. S. 87-190.

Hand­ke: „Kas­par“: Her­un­ter­la­den [pdf][207 KB]