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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

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Nathan der Weise gehört als stilbildendes Ideendrama der Aufklärung zur Weltliteratur. Kein anderes deutsches Drama des 18. Jahrhunderts tritt so entschieden für eine – wie man sie damals nannte – „Duldung“ nicht-christlicher Religionen und interreligiöse Verständigung ein. Die bis weit ins 19. Jahrhundert zurückreichende schulische Rezeption erklärt sich auch dadurch, dass Lessing sein „dramatisches Gedicht“ als pädagogisches Lehrstück konzipiert, das vom Abstrakten zum Konkreten prozediert. Die von religiösem Eifer angestachelte Feindschaft der drei monotheistischen Religionen evolviert zum familialen Bündnis. Einen diskursiven Höhepunkt erreicht das Stück im Religionsgespräch zwischen Nathan und dem feurigen Tempelherrn (II, 5). Im Zentrum des Gesprächs steht die heikle Frage, ob nicht der Monotheismus Denkmuster der Exklusivität und der Superiorität befördere. Der Tempelherr wirft Nathan vor, das Judentum habe die Keimzelle vieler religiöse Konflikte, nämlich „die fromme Raserei, den bessern Gott zu haben“, mit der Behauptung, das „auserwählte Volk“ zu sein, selbst geschaffen. Das missionarische Ziel, „diesen bessern [Gott]/ Der ganze Welt als Besten [aufzu]dringen (II, 5)“, führe zwangsläufig zu einer Rivalität der abrahamitischen Religionen. Nathan selbst zeigt einen Ausweg aus diesem Dilemma auf, wenn er unter – der figurenpsychologisch wenig plausiblen und sehr abrupten – Zustimmung des Tempelherrn („Ich schäme mich Euch einen Augenblick verkannt zu haben“ (II,5)) die aufklärerische Maxime einer universellen Menschlichkeit über das religiöse Offenbarungsprinzip stellt. Religion wird dadurch unter das Primat der Vernunft gestellt und zur Privatsache depraviert. Religiöse Inhalte sind aus dieser Perspektive nicht mehr als Offenbarung Gottes, sondern symbolisch als Bilder und Zeichen für menschliche Erfahrungen zu verstehen. Dies macht eine Deutung durch Philosophie, modernes Weltwissen und Kunst (Ter Nedden, 2011) unumgänglich.

Der zweite Schritt vollzieht sich dann im Symbolgeflecht der Ringparabel, deren Einbettung in den Bannkreis von Macht und Geld in der schulischen Rezeption oft zu wenig Beachtung findet. Nathan erwartet nach seiner Vorladung in den Palast zunächst, dass der Sultan ihn um Geld bitten wird. Deshalb versteht er Saladins Bitte, ihm die wahren Religion zu entdecken, als Fangfrage, für die es keine angemessene Antwort gibt. Nathans Eingeständnis, das ihm gestellte Rätsel nicht lösen zu können, würde den Sultan in eine Position der Überlegenheit bringen. Dadurch fiele es ihm leichter, Nathan zur Gewährung eines Darlehens zu überreden. Nathan weiß um den Zusammenhang zwischen der Deutungshoheit über Religion und weltlicher Macht. (Lessing selbst musste ein solche Machtkonstellation bitter im sog. „Fragmentenstreit“ mit dem Hamburger Pastor Goetze erfahren, als ihm die Zensurfreiheit entzogen wurde.) Anstelle einer eindeutigen Antwort erzählt er deshalb ein „Geschichtchen“. Der narrative Trick Nathans besteht nun in einer Verschiebung des erkenntnistheoretisch unlösbaren Wahrheitsproblems ins Symbolische. Dies geht jedoch auf Kosten seines eigenen Jüdischseins („So ganz Stockjude sein zu wollen, geht schon nicht.“ (III, 5)). Peter Sloterdijk hat darauf verwiesen, dass eine derartige Volte mit dem Repertoire postmoderner Denkmuster korrespondiert. [Das Geschichtchen] – so Sloterdijk – vereinige in sich „den primären Pluralismus, die Positivierung der Simulation, die praktische Suspension der Wahrheitsfrage, die zivilisierende Skepsis, die Umstellung von Gründen auf Wirkungen und den Vorrang des externen Beifalls vor den internen Ansprüchen“ (Sloterdijk 2008). Statt sich auf eine Religion als die einzig Wahre festzulegen, verschiebt Nathan die Frage nach dem Ursprung ins „Performative“. Die Authentizität der Offenbarung gilt in der Parabel nur für den jeweiligen Sohn und ist durch die Liebe des Vaters als Bürgen für die Tradition (Atkins 1951), aber nicht durch die Echtheit des Steins im jeweiligen Ring legitimiert (Assmann, 2016). Somit liegt die „Wahrheit der Religion“ im ethischen Handeln: „Es eifre jeder seiner unbestochnen/ Von Vorurteilen freien Liebe nach!/ Es strebe von euch jeder um die Wette, /Die Kraft des Steins in seinem Ring’ an Tag/ Zu legen“ (III, 7) (Goetschel, 2003).

Lessing überführt diese Handlungsethik dann in einem letzten Schritt in eine aus heutiger Sicht fragwürdige Familienkonstellation. In ihr zeigt sich, wie schwierig der Weg der Verständigung zwischen Religionen ist, wenn er außerhalb von Verwandtschaftsbeziehungen gegangen werden soll. In der Anagnorisis am Ende des Dramas, die nicht zum erwarteten romantischem Liebesglück zwischen dem Templer und Recha, sondern zu einer operettenhaft folgenlosen Verschwisterung führt, lassen sich die bereits von Schiller bemerkten komödienhaften Elemente des Nathan erkennen. Der ironische Unterton des Schlusses ist von Lessing so intendiert. Denn trotz des ernsten Themas steht Lessings Schauspiel in der Tradition von Diderots drame, einer Mittelgattung zwischen Komödie und Tragödie (vgl. Demetz, Berghahn). Die von Diderot geforderte Mixtur aus Komik und Tragik zeigt sich vor allem in der Figurengestaltung. Selbst der allen überlegene Protagonist Nathan ist nicht frei von komödiantische Zügen, zum Beispiel als er sich wie ein eifersüchtiger Vater der Commedia dell’arte gegen die Liaison seiner naiven Tochter Recha mit dem feurigen Tempelherrn zu stellen versucht. Lächerlich wirkt auch die verschlagene und bigotte Dienerin Daja, die Rechas Seelenheil retten will, aber gleichzeitig deren über alles geliebten Ziehvater (und ihren eigenen Dienstherren) Nathan verflucht (Berghahn). Auch andere Figuren tragen komödiantische Züge: der asketische Derwisch Al Hafi ist käuflich; die geldgierige Sittah figuriert als „witzige“, aber unfähige Intrigantin. Sogar Saladin verkörpert weniger einen Despoten denn einen von Finanzproblemen geplagten „Hausvater in den Pantoffeln eines Privatmenschen“ (Demetz).

Den komödiantischen Elementen des Stücks steht immer auch die Omnipräsenz von Gewalt und Bedrohung gegenüber. Der satirisch überzeichnete Patriarch von Jerusalem, eine Karikatur des Erzfeindes Melchior Goetze, bleibt in seinem religiösen Fanatismus nur deshalb lächerlich, weil er seine Gewaltphantasien gegenüber Nathan nicht umsetzen kann. Hier zeigt sich die Ambiguität des Dramas, denn Nathans eigenes Lebensglück ist für alle Zeit überschattet vom grauenvollen Pogrom der Kreuzfahrer, dem seine Frau und seine sieben Söhne zum Opfer gefallen sind. Unklar bleibt, ob er nicht sogar erneut Opfer eines Angriffs geworden. Über die Ursache des Brandes in seinem Haus, aus dem Recha vom Tempelherrn gerettet wurde, gibt das Stück keine Auskunft. George Tabori, dessen bittere Bearbeitung von Lessings Drama mit dem Titel Nathans Tod (1991) wichtige Impulse für eine kritische Lektüre des Stücks bereiten kann, wirft die Frage auf, ob das Haus nicht aufgrund einer Brandstiftung von Christen brenne. Auch wenn es im Drama keine unmittelbaren Hinweise auf diese Lesart gibt, so nimmt der Jude Nathan auch so eine nahezu übermenschliche Haltung ein, weil er nach der Hiob-Katastrophe des Verlusts seiner gesamten Familie ausgerechnet ein verwaistes Christenmädchen, einen Sprössling der Täter, bei sich aufnimmt. Aus historischer Perspektive ist die Wendung, ausgerechnet von einem Juden eine solche Fähigkeit zur Vergebung abzuverlangen, mit einem großen Fragezeichen versehen. Gleiches gilt für die Zeichnung Nathans als stereotypen reichen jüdischen Kaufmann, der es aus Angst vor Sanktionierung durch Saladin mittels eines „Geschichtchens“ vermeidet, ein klares Bekenntnis zu seiner eigenen Religion abzugeben. Nicht ohne Grund versuchte die NS-Germanistin Elisabeth Frenzel zur Zeit des Zweiten Weltkriegs diese vermeintliche Illoyalität Nathans gegenüber der Religion seiner Vorväter, die von Lessing als notwendiger Schritt zum Gewinn von intellektueller Souveränität intendiert war, rassenideologisch als Zeichen für die opportunistische Gesinnung des Judentums zu instrumentalisieren (1940). Postkoloniale Lektüren verweisen dahingegen darauf, dass bereits Lessings jüdischer Freund Moses Mendelsohn die Frage stellte, ob in der Figuration der Toleranz nicht das spezifisch Jüdische des Nathan verloren gehe. Lessings unbestrittene philosemitische Grundhaltung mit ihrer Ausrichtung auf das alltägliche Zusammenleben kontrastiert denn auch signifikant mit seiner Ablehnung der theologischen Wurzeln des Judentums. In der fast zeitgleich zum Nathan entstandenen Erziehung des Menschengeschlechts (1778-80) entwirft Lessing eine Genealogie der Religionen. Demnach sei das Judentum die kindliche Vorstufe zur wahren Religion des Christentums; die Thora müsse als ein „Elementarbuch für Kinder“ gelesen werden; sie bestehe aus „Vorübungen, Anspielungen, Fingerzeigen“, die durch Jesus, den „beßren Pädagog“, abgelöst wurden (vgl. §53:88; s. a. Helfer 2013). In Nathan der Weise bleibt das Judentum Nathans eher unspezifisch, sondern bewegt sich im Spannungsfeld von Christentum („Nathan“ [...] Bei Gott, ihr seid ein Christ! / Ein bessrer Christ war nie!“ (IV,7)), sokratischer Religionsskepsis (vgl. II, 6; III, 4 (Auerochs 2014)) und dem spinozistischen Glauben an eine natürliche Religion. Mit seinem Judentum figuriert Nathan als Vertreter der ursprünglichen Religion; die Legitimität, die sich aus der Tatsache ergibt, schlicht die zeitlich erste der drei abrahamitischen Religionen gewesen zu sein, stellt per se eine „Bedrohung der Integrität der christlichen und muslimischen Gesellschaften“ dar (Helfer 2013). Nicht ohne Grund wird Nathan von der Blutsverwandtschaft der natürlichen Familie ausgeschlossen (Helfer, 2013). Im Gegensatz zum Tempelherrn und Saladin muss er sich seine Zugehörigkeit zur versöhnlichen Gemeinschaft der Schlussszene erst verdienen (Robertson 1999, 43).

Textausgaben:

G.E. Lessing: Nathan der Weise: Ein dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. Hg. v. Wilhelm Große. Suhrkamp Basis Bibliothek. Frankfurt 2003

G. E. Lessing: Nathan der Weise. Textausgabe mit Kommentar und Materialien. Hg. v. Thorsten Krause. Reclam XL – Text und Kontext. Stuttgart 2021

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