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Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Herta Müllers Roman kann zunächst als „Deportations- bzw. Lagerroman“ bezeichnet werden, der auf historisch verbürgten Vorgängen beruht: Der von der Alliierten Kontrollkommission am 6. Januar 1945 erteilte, die Unterschrift des sowjetischen Generals Vinogradov tragende Deportationsbefehl verfügte, dass zwischen dem 10. und dem 20. Januar alle arbeitsfähigen deutschen Einwohner Rumäniens zur Arbeit zu mobilisieren sind (Männer im Alter von 17-45, Frauen zwischen 18 und 30 Jahren). Sämtliche Zwangsrekrutierten (insg. 75000 Personen) wurden in Viehwaggons in sowjetische Arbeitslager verfrachtet, wo die meisten – so sie nicht zuvor verstarben – fünf Jahre interniert blieben. In zweiter Linie ist der Roman auch eine Erzählung der lebenslangen Traumatisierung und dauerhaften Exilierung, da der Protagonist Leo Auberg sich zeitlebens nicht von seinen Lagererfahrungen lösen kann und auch nach der physischen Heimkehr keine Heimat mehr findet. Die tendenziell euphemistischen Bezeichnungen „Erinnerungs–“ bzw. „Exilroman“ erfassen dieses Schicksal nur unzureichend. Die einschneidende und nachhaltige Wirkung des Textes beruht auf seiner außergewöhnlichen Sprache und seiner im Hinblick auf das Darzustellende konvergenten Erzähltechnik. Die weitgehende Verschmelzung des erzählenden mit dem erlebenden Ich ermöglicht die Darstellung des Lageralltags in ungeschönter Eindringlichkeit; das weitgehende Fehlen zeitlicher Koordinaten im Erzählkontinuum verleiht dem Umstand Ausdruck, dass in den langen Jahren der Internierung zyklische, sich ständig wiederholende Vorgänge vorherrschen. In den Erzählsequenzen sind viele ähnliche Geschehnisse verschmolzen, ohne dass einzelne zeitlich fixiert werden könnten. Des Weiteren werden die Mittel, die Leo erfindet, um mit dem aufgezwungenen Elend umzugehen und mental, seelisch und physisch zu überleben, nicht nur einfach erzählt, sondern diese greifen auf die Sprache selbst über. Als unmittelbar ins Erzählerische übersetzte subjektive Überlebensstrategien können gelten:

(1) die Fixierung auf gegenständliche Details, die mal der Selbstvergewisserung dienen, da sie Vertrautheit suggerieren, aber auch durch Verselbständigung die Entindividualisierung des Betrachters markieren. Dazu gehören: Brot, Krautsuppe, Kartoffelschalen, der Watteanzug, die Herzschaufel (Schaufel mit einem herzförmigen Schaufelblatt), die Kuckucksuhr mit dem Gummiwurm, der Weihnachtsbaum aus Draht und grünem Filz, die Werkstoffe Kohle, Zement, Schlacke, Pech. Einen besonderen Status unter den Gegenständen genießt der seidene Schal als wertvoller Teil der Vorlager-Identität sowie das bestickte weiße Taschentuch der russischen Mutter (für ihren verschollenen Sohn bestimmt) als tröstliches Zeichen der Liebe und Zuwendung.

(2) Personifikationen und Metaphorik zur Handhabbarmachung konkreter Bedrohungen. So wird etwa der omnipräsente Hungerengel zum Feind und listigen Widersacher, der in vielen Situationen und Variationen in Erscheinung tritt und entsprechend von Leo bekämpft wird (vgl. Kap. 14, 28, 48). Zusammen mit dem Hungerengel erscheint der Zement als personifizierter Intrigant, beide als Komplizen, um die Zwangsarbeiter zu quälen. Metaphern dienen auch zur Beschönigung hässlicher Wahrheiten: „der weiße Hase“ im Gesicht ist Zeichen des nahenden Hungertodes; oder sie stehen im Dienste der Bedeutungsverdoppelung: „Herzschaufel“ als Werkzeug und Metapher für das schlagende Herz (vgl. auch „Atemschaukel“ für das wiegende Ein- und Ausatmen).

(3) Neologismen und Komposita als neu zu schaffende Benennungen des Ungeheuerlichen, um damit umgehen zu können: „Eintropfenzuvielglück“ (Kap. 10), steht für den tödlichen Sturz in die Mörtelgrube; „Hautundknochenzeit“, „Entlausungsparade“ (Kap. 31), „Blechkuss“ (Kap. 49), bezeichnet das Geräusch beim Essen (Löffel und Blechnapf); „Kopfglück“ und „Mundglück“ (Kap. 55), „Wangenbrot“ (Kap. 21) = eingetauschtes Brot von jenen mit eingefallenen Wangen vs. „Eigenbrot“; „Hasoweh“ (Kap. 22), ursprünglich russische Bezeichnung für Gas-Kohle ‚hasowje‘, die lautlich modifiziert und auf Heimweh und andere Formen des Bedauerns übertragen wird.

(4) Träume, Visionen, Gedankenspiele, um der grauen Lagerrealität zu entfliehen: Das Kohleschaufeln wird als Tanz mit der Herzschaufel imaginiert (vgl. Kap. 13), die Schicht im Schlackekeller als ebenmäßiges, ausgewogenes Kunstwerk (vgl. Kap. 33). Trudi Pelikan erzählt Leo ihren Traum von der Befreiung durch einen amerikanischen Schweinefleischkonserven-Fabrikanten, der fliege wie ein Schwan (vgl. Kap 34). Leo träumt regelmäßig vom Nachhause-Reiten auf einem weißen Schwein (vgl. Kap. 38).

(5) Vereinzelte Anflüge von Sarkasmus und Ironie in der Darstellung a) einzelner Personen, z.B. der undeutlich redende Offizier auf dem Appellplatz (vgl. Kap. 7) oder der im LKW schlafende Schischtwanjonow (vgl. Kap. 11); b) von Dingen bzw. Vorgängen, z.B. das Herausreißen des Kuckucks aus der falsch gehenden Uhr und Ersatz durch ein Gummi, sodass bei jeder vollen Stunde der Gummiwurm erscheint (vgl. Kap. 17); c) auch in Erinnerungsepisoden, z.B. das Morgenturnen der Eltern vor dem Blaupunkt-Radio, die Nachstellungen des Obergefreiten Dietrich gegenüber der Mutter (vgl. Kap. 7).

(6) eingeschobene Erinnerungen an die Zeit vor dem Lager (vgl. Kap. 7, 12, 16, 20, 29, 32, 35, 37, 39, 40, 44).

Die Schilderungen besonderer Vorfälle ergänzen die Darstellung der Lagerroutine und geben einerseits Einblicke in die Erosion des Selbstverständnisses Leos sowie des sozialen Miteinanders, andererseits aber verweisen sie auch auf die letzten Refugien von Ich und Gemeinschaft:

- Leos Geldfund auf dem Basar (vgl. Kap. 27) und der darauffolgende Essensanfall bis zum Erbrechen;

- die Postkarte von der Mutter, in der sie Leo die Geburt eines weiteren Kindes (Robert) mitteilt, die in ihm eine dauerhafte schwere Demütigung auslöst (vgl. Kap. 42 f.);

- der Tanz auf dem Appellplatz (vgl. Kap. 54) als Auslöser des „Kopfglücks“ (vgl. Kap. 55 f.), der Sternschnuppenwunsch (Leben!);

- der Brotdiebstahl Karli Halmens und seine Bestrafung durch die anderen Insassen (Brotgericht) als Zeichen eines funktionierenden kollektiven Rechtsempfindens (vgl. Kap. 19);

- die Sonderstellung und Sonderbehandlung Planton-Katis, deren Verletzlichkeit und geistige Schwäche von keinem ausgenutzt wird, die somit zur Garantin des sozialen Anstands und des humanen Miteinanders unter den Internierten wird (vgl. Kap. 18, 53).

Gegenüber der breiten Raum einnehmenden Darstellung der Lagerwelt erscheinen die sechs Kapitel zu Leos Leben nach dem Lager wie ein Epilog, obgleich sie einen weit längeren Zeitraum umfassen. Dadurch und durch den Umstand, dass hier äußere Ereignisse eine untergeordnete Rolle spielen, deutet sich schon an, dass die innere Last, die er zu tragen hat, durch die Lagererfahrung so immens an Gewicht zugenommen hat, dass alle Erfordernisse des gegenwärtigen Daseins für ihn nicht mehr zu schultern sind. Er beobachtet alles um ihn herum passiv und ohne Anteilnahme (vgl. Kap. 59), die Familienmitglieder begegnen ihm mit freudloser Erleichterung, er meidet sie, wo es geht, und bleibt unnahbar („Nichts ging mich was an. Ich war eingesperrt in mich und aus mir herausgeworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir“, Kap. 60). Der Versuch, die Vergangenheit durch Memoiren zu verarbeiten, kann die Isolation und Fremdheit in der Gegenwart nicht kurieren (vgl. Kap. 62). Ein neuer Beruf und die Ehe mit Emma bringen Ablenkung, aber keine Besserung (vgl. Kap. 63). Es bleiben der Arbeitszwang und die Unfähigkeit, frei zu sein (vgl. Kap. 64).

Textausgabe:

Herta Müller: Atemschaukel. München 2009.

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