Zur Hauptnavigation springen [Alt]+[0] Zum Seiteninhalt springen [Alt]+[1]

Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven

Streulicht ist ein Roman, der sich mit sozialer Herkunft beschäftigt und die Frage nach einer möglichen Determinierung aufwirft. Inhaltliche Relevanz erlangen die Ausgrenzung aus der Gesellschaft, die Abwertung und eine Form der strukturellen Diskriminierung.

Erzähltechnisch wird die Lebensgeschichte der Ich-Erzählerin durch detailreiche und atmosphärisch dichte Rückblenden geschildert. Im gesamten Roman bleibt die Erzählerin ohne Namen und folglich auch ohne Individualität; ihr Schicksal soll exemplarisch für dasjenige anderer gelten. Da der Roman auch biographische Züge trägt, kann er – wie die Autorin selbst herausstellt – autobiographisch gelesen werden: Streulicht ist ein Denkmal für jene, die neben den Strommasten und Müllverbrennungsanlagen aufgewachsen sind, nicht nur in Frankfurt, sondern überall, die wegwollten, aber nicht konnten, die gegangen sind und sich zurücksehnen, die – wie ich – nicht anders können, als sich in der Nähe eines Klärwerks seltsam heimisch zu fühlen.“ (Klappentext der Erstausgabe)

Der Roman kann als Bildungsroman eingeordnet werden. Versteht man den Bildungsroman als spezifisch deutsche Abart des Entwicklungsromans, so werden die beiden konstituierenden Ebenen dieser Romanform deutlich; denn, um einen Roman als Bildungsroman zu klassifizieren, reicht es nicht aus, die Entwicklung des Helden auf der Ebene des Charakters und der Persönlichkeit nachzuweisen, sondern vielmehr muss auch der kulturelle Einfluss der Umwelt auf den Helden und dessen Entwicklung evident werden. Diese Faktoren sind im Falle von Streulicht vorhanden.

Streulicht gehört zur deutsch-türkischen Literatur, die unterschiedliche Phasen durchlaufen hat. Schilderten die Autoren der ersten und zweiten Generation noch primär die (negative) Situation als Migranten und die Fremdheitserfahrung, ist seit den 1980er Jahren ein Wendepunkt auszumachen, da zunehmend die Chancen der Migration in den Mittelpunkt gerückt werden. Das Besondere an dem Roman ist, dass eine gelingende Bildungsgeschichte erzählt wird, in der die sozial benachteiligte Ich-Erzählerin ihre privilegierte Freundin am Ende des Sozialisationswegs sogar übertrifft. Deniz Ohde betont in einem Interview, dass dies aber keineswegs als ausschließlich positives Ende gelesen werden kann: „Für mich war das Wichtigste zu zeigen, dass so eine Aufstiegsgeschichte – wie die Erzählerin sie ja erlebt, die auf dem Papier aussieht wie eine Erfolgsgeschichte und es von den Fakten her gesehen auch ist – dass die aber immer noch eine Kehrseite hat. Diese Erzählerin fühlt sich am Schluss nicht triumphierend. Es ist keine Triumphgeschichte, wo am Ende eine Gewinnerin heraus geht, sondern diese Abwertungen, die sie erlebt in ihrer Bildungsbiografie schlagen sich so sehr in ihrem Inneren nieder, dass sie am Schluss immer noch damit zu kämpfen hat.“ (Interview in MDR-Kultur)

Textausgabe:

Ohde, Deniz: Streulicht. Roman. Frankfurt 2021. [auch als Taschenbuch verfügbar]

Ohde: „Streulicht“: Herunterladen [pdf][192 KB]