Inhalt
Der 24-jährige Subaltern-Offizier Gustl hat von seinem Vorgesetzten Kopetzky eher zufällig als geplant eine Konzertkarte erhalten und sitzt nun im Wiener Musikvereinssaal in der Aufführung eines Oratoriums, der er aber nur mit mäßigem Interesse folgt. Er erwartet ungeduldig das Ende und lässt sich durch allerlei Beobachtungen, emotionale Regungen und Gedanken ablenken. Durch diese bunte Mischung an Bewusstseinsinhalten erfahren die Lesenden von Gustls permanenten Abgrenzungsaffekten, seinem bevorstehenden Fechtduell mit einem Juristen, der es gewagt hat, sich despektierlich über Offiziere zu äußern, ferner von seinen antisemitischen und politischen Vorurteilen, von seinen festen Familien- und lockeren Beziehungsverhältnissen, von seinem militärischen Standesdünkel und seiner selbstgerechten und wenig reflektierten Urteilsbereitschaft. Diese oberflächliche Selbstsicherheit eines Durchschnittscharakters wird unmittelbar nach Ende des Konzerts durch die Ereignisse vor der Garderobe nachhaltig erschüttert. Beim Versuch, sich im Gedränge einen Weg durch die Menge zu bahnen, gerät Gustl in einen hitzigen Wortwechsel mit einem Bäckermeister, der ihm im Weg steht. Die Situation eskaliert so weit, dass er sich zu einer unbotmäßigen Beleidigung hinreißen lässt. Zwar bedauert er seine Invektive bereits in dem Moment, als er sie ausspricht, aber er kann sie nicht mehr rückgängig machen. Der Bäckermeister reagiert mit einer diskreten, aber unmissverständlichen Drohung. Sollte Gustl sich weiter aufspielen, habe dies eine Zerstörung seines Säbels zur Folge, dessen Einzelteile dem Regimentskommando zugingen. Der Bäckermeister bekräftigt seine Drohung, indem er den Griff von Gustls Säbel festhält, sodass dieser handlungsunfähig wird, und bezeichnet ihn schließlich als dummen Buben. Zum Trost bestätigt er Gustl, dass der Vorfall von niemandem bemerkt worden sei und dass es ihm auch nicht darum gehe, Gustls Karriere zu verderben. Trotz des zwar demütigenden, aber letztlich harmlosen äußeren Konflikts ist Gustl in seinem Selbstverständnis zutiefst erschüttert. Da er den Ehrenkodex des Militärs verinnerlicht hat und die Stabilität seiner ganzen Persönlichkeit aus seinem militärischen Rang und seiner Uniform abgeleitet ist, muss er seine beschädigte Ehre wiederherstellen. Dies ist jedoch nicht möglich. Der Bäcker ist als kleiner Gewerbetreibender nicht satisfaktionsfähig und eine spontane Ehrennotwehr war nicht auszuführen. Daher bleibt ihm nur der Suizid. Innerlich vollkommen verunsichert, kreisen seine Gedanken um den Vorfall und den Selbstmord, der ihm unausweichlich erscheint. Ohne es recht zu realisieren, gelangt er auf die Straße und auf seinen Weg durch das nächtliche Wien zum Prater, wo er sich auf einer Bank ausruht und einnickt. Auf dem Weg dorthin ist er innerlich getrieben von Angst (vor einer nachträglichen Enthüllung seines Versagens durch den Bäckermeister und vor dem Tod), von wehmütigen Erinnerungen an die Eltern und die Schwester, von verzweifelten Erwägungen eines anderen Lebenswegs, von Fluchtgedanken (Amerika) und hilflosen Erklärungsversuchen, von Formen des Abschiednehmens. Dabei hadert er mit seinem Schicksal und versinkt immer wieder in Selbstmitleid und Gedanken des Zu-Kurz-Gekommen-Seins. Argwöhnisch registriert er seine Umgebung, ist innerlich und äußerlich isoliert und trostlos. Nach kurzer Zeit des Ausruhens auf der Bank macht er sich auf den Weg zurück, wird weinerlich, begegnet am frühen Morgen Straßenkehrern, denkt an seine Kameraden, passiert den Nordbahnhof und bekommt Panikattacken. Angelockt durch Orgelmusik geht er in eine Kirche und nimmt am dortigen Morgengottesdienst teil, der ihm jedoch keinen nachhaltigen Trost bietet. Auf dem Weg über die Ringstraße in Richtung Kaffeehaus begegnet er einem Wachmann, dem er brav salutiert. Er denkt an seine Spielschulden, sein unverbindliches Verhältnis zu seiner Freundin Steffi sowie an die Notwendigkeit, Abschiedsbriefe zu schreiben. In seinem Stammkaffeehaus angekommen, wird er vom Kellner Rudolph begrüßt, der ihm mitteilt, dass der Bäcker um Mitternacht einen Schlaganfall erlitten habe. Zunächst fällt es ihm schwer, den Tod des Kontrahenten zu glauben. Er lässt sich ihn durch Nachfrage bestätigen und kann seine neue glückliche Lage kaum fassen. Nach kurzer Besinnung geht er zur Normalität über und plant sein am Nachmittag bevorstehendes Fechtduell gegen den sozialdemokratischen Doktor mit nun gesteigerter Aggressivität.
Schnitzler: „Lieutnant Gustl“: Herunterladen [pdf][170 KB]