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Inhalt

„Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel“. Mit dieser Vorwarnung eröffnet der heterodiegetische Erzähler seine Schilderung von Vorgängen, die sich in einer unbenannten Vergangenheit, die man aufgrund der geschilderten Lebensumstände ungefähr auf die Zeit um 1800 einordnen kann, abgespielt haben. Im vierten Stock eines bürgerlichen Mietshauses am „Sanct Petersplatz“ im Zentrum Wiens lebt ein Mann mittleren Alters mit seiner „wunderschönen“ Frau. Diese hat vor kurzem ein Mädchen mit „winzigen roten Lippen“ und „rosigem Gesicht“ zur Welt gebracht. Das Bettchen des Mädchens wird „von goldenen Engeln“ und einem Porträt der Gottesmutter beschützt. Welcher Profession der Mann nachgeht, weiß niemand. Offenbar führt er ein recht umtriebiges Leben. Er besucht Kaffeehäuser und dilettiert in den unterschiedlichsten Künsten von der Malerei bis zur Musik. Die Nachbarn, die ihn den „Rentherrn“ nennen, bemerken seine soliden wirtschaftlichen Verhältnisse und wissen vom gepflegten Umgang mit seinen wenigen Freunden. Unter diesen befindet sich auch der Burgschauspieler Dall. Dall ist in Wien eine Berühmtheit; er gilt als Meister des tragischen Fachs, der die Zuschauer „zu äußerste[r] Begeisterung“ oder zu „äußerstem Schauer“ hinzureißen vermag. Ausgewählte Gäste wie Dall führt der Rentherr in ein spezielles Zimmer, die „Heldenstube“. Dort sind „alle Wände ganz vollständig mit Blättern von Bildnissen berühmter Männer beklebt“. Damit man die Porträts bequemer studieren kann, hat der Rentherr spezielle Rollbetten und als besondere Geste gegenüber Dall einen besonders komfortablen Rollsessel anfertigen lassen. Das friedliche Leben nimmt jedoch ein jähes Ende, als Dall eine Liebesaffäre mit der Ehefrau des Rentherrn beginnt. Die von Gewissensbissen geplagte junge Frau gesteht diese nach einiger Zeit ihrem Gatten. Der Rentherr gerät daraufhin in große Rage; er will Dall zur Rede stellen und hegt sogar Mordpläne. Als er den Schauspieler aufsuchen will, stößt er auf verschlossene Türen. Offenbar hat Dall – wohl in Vorahnung des hereinbrechenden Ungemachs – Wien verlassen. Nach einiger Zeit legt sich die anfängliche Wut des Rentherrn gegenüber seiner Frau. Er macht sich selbst Vorwürfe und verzeiht ihr die Untreue. Dennoch ist die Frau eines Tages spurlos verschwunden. Trotz intensiver Nachforschungen gelingt es dem Rentherrn nicht, seine Gattin wiederzufinden. In seiner Verzweiflung wendet sich der Rentherr sogar an Dall, der nach einiger Zeit wieder nach Wien zurückkehrt, und bittet ihn, ihm seine Frau wieder zurückzugeben. Doch auch Dall weiß nichts über den Aufenthaltsort der jungen Frau. Nach Monaten erfolgloser Suche muss der Rentherr seine Hoffnung aufgeben. Wahrscheinlich hat sich die junge Frau das Leben genommen. Ohne endgültige Gewissheit über die schreckliche Vermutung erlangt zu haben, flieht der Rentherr zusammen mit dem kleinen Kind überstürzt aus der Stadt. Über sein Schicksal ist in Wien lange nichts bekannt; irgendwann kursiert das Gerücht, er hause in einer Höhle inmitten der böhmischen Wälder. Doch dann verliert sich seine Spur endgültig. Es vergeht über ein Jahrzehnt, bis das weitere Geschehen in fünf Episodenvon einer neuen Erzählinstanz, einer unbenannten Bürgersfrau aus einer Wiener Vorstadt, weitererzählt wird. Abgesehen von ihrem materiellen Wohlstand wird über die Erzählerin nur berichtet, dass sie mit der Zwischenzeit verstorbenen Dall „recht gut“ bekannt gewesen sei. In der ersten Episodeschildert die Frau, wie sie beim Blick aus dem Fenster ihrer Wohnung einen Mann und ein Mädchen beobachtet hat. Deren unbeholfenes Auftreten, das auf eine Zeit außerhalb jeglicher (urbaner) Zivilisation schließen lässt, aber insbesondere die Anatomie des Mädchens, das „einen so großen Kopf [hatte], daß es zum Erschrecken gereichte“, ziehen die „Neugierde“ der Frau auf sich. Sie beschließt die Fremden auszukundschaften. Die zweite Episode handelt von einem nächtlichen Spaziergang der Ich-Erzählerin mit ihrem Mann durch die Vorstadt. Die beiden hören aus dem heruntergekommenen Perron’schen Herrenhaus ein bizarres Flötenspiel, in dem sich trotz „ungefügter Mittel“ „Trauer und eine Klage und noch etwas Fremdartiges“ verbinden. In der dritten Episode berichtet die Dame von einem Botendienst für ihren Mann. Sie will ein Buch zu einem Freund der Familie, dem Professor Andorf, bringen. Dieser gehört zu den letzten Bewohnern des Perron’schen Hauses. Da Andorf nicht anzutreffen ist, übergibt sie das Buch zögerlich einem sonderbaren Pförtner, der zwar in nicht zu verheimlichender Armut in einer dunklen Kellerwohnung wohnt, aber sich für seinen Status ungewöhnlich eloquent auszudrücken vermag und seine Dienste anerbietet. Nachdem wieder Zeit vergangen ist, ereignet sich die vierte Episode. Diesmal ist der Sohn der Dame in das Geschehen involviert. Eines Tages kommt dieser völlig außer sich zu seiner Mutter gerannt. Er erzählt von einer verstörenden Begegnung. Ein Mädchen mit einem großen Kopf habe ihn angeschrien, als er einen zahmen Raben eingefangen habe und ihn streicheln wollte. In der letzten Episode fügen sich dann die vorausgegangen Episoden und die Vorgeschichte zusammen. Die Ich-Erzählerin erfährt vom plötzlichen Tod des Pförtners, bei dem es sich um niemand anderen als den Rentherrn gehandelt hat. Mit Einverständnis der Behörden nimmt sie sich dessen Tochter an. Zusammen mit ihrem Mann versucht sie der jungen Frau mit sanfter Beharrlichkeit, intensiver Zuwendung und psychosomatischen Kuren die Fähigkeit zu verschaffen, ein eigenständiges Leben zu führen. Nach vielen Bemühungen gelingt es der Tochter des Rentherrn, sich vom Fluch des Vaters zu befreien. Dank ihres ererbten Vermögens und durch den Verkauf von Handarbeitswaren vermag sie es, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Sogar die Deformation des Kopfes bildet sich mit der Zeit langsam zurück. Doch die körperliche Entstellung bleibt weiterhin sichtbar: Sie ist ein Residuum der familiären Katastrophe, deren Folgen nicht überwunden werden können. Am Ende meldet sich der Erzähler der Rahmenerzählung noch einmal zu Wort. Er verweist auf den schnellen Wandel der Großstadt, der die Geschichte um den Rentherrn und sein Kind schnell in Vergessenheit geraten ließ.

Textausgaben:

Adalbert Stifter: Turmalin. Weitra (A) 1996 (Bibliothek der Provinz, Bd. 1)

Adalbert Stifter: Bunte Steine. Stuttgart 1994

Stifter: Bunte Steine II (Sprecher: Heiko Ruprecht, MP3-Download), Stuttgart 2018

Stifter: „Turmalin“: Herunterladen [pdf][224 KB]