Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891)
Empfehlung für das Basisfach und das LeistungsfachKurzinformation
Melchior Gabor, Wendla Bergmann, Moritz Stiefel und weitere Gymnasiasten im Pubertätsalter stoßen mit ihren natürlichen Bedürfnissen und naiven Ansichten an die harten Grenzen der in überkommenen Moralvorstellungen erstarrten bürgerlichen Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dabei scheitern die einen an Tabuisierungsgeboten einer rigiden Sexualmoral, andere an falsch verstandenem Liberalismus in der Erziehung; diese zerbrechen an dem unmenschlichen Leistungs- und Erwartungsdruck, der durch Schule und Elternhaus an sie herangetragen wird, jene reiben sich an dem unüberbrückbaren Gegensatz zwischen den Bedürfnissen eines erwachenden Trieblebens und der Verständnislosigkeit einer lebensfeindlichen bürgerlichen Gesellschaft auf.
Der aus einem liberalen Elternhaus stammende Melchior Gabor verfasst für seinen Freund Moritz Stiefel eine Aufklärungsschrift, wird deswegen von Seiten der Lehrerschaft der moralischen Verdorbenheit bezichtigt und der Schule verwiesen. Nachdem er seine Mitschülerin Wendla vergewaltigt hat, wird er von seinen Eltern in eine Korrektionsanstalt gesteckt, zumal er auch noch für Moritz‘ Tod verantwortlich gemacht wird, der dem Erwartungsdruck seiner Eltern nicht gewachsen ist und nach einem gescheiterten Fluchtplan Suizid begeht. Die 14-jährige Wendla Bergmann ist in sexuellen Dingen trotz dreimaliger Schwangerschaft ihrer älteren Schwester völlig unaufgeklärt geblieben. Ihre Mutter kann sich nicht überwinden, offen mit ihr über die Herkunft der Babys zu sprechen; Wendla wird daraufhin selbst schwanger und stirbt an einer medikamentösen Abtreibung. Weitere Mitschüler wie Hänschen Rilow und Ernst Röbel suchen andere Wege und geben sich im Geheimen ihren Leidenschaften bzw. ihrer Liebe zueinander hin. Als Melchior aus der Korrektionsanstalt flieht und am Grab von Wendla (von Schuldgefühlen geplagt) auf den Geist von Moritz trifft, der ihn zur Selbsttötung überreden will, taucht ein „vermummter Herr“ auf, der ihn von seinen Suizidgedanken wieder abbringt.
Wedekinds Adoleszenz-Tragödie spricht Themen an, die auch für heutige Jugendliche brisant sind. Trotz der Aufklärungspraxis an den Schulen, der anerkannten Vielfalt der geschlechtlichen Orientierungen und auch der individuellen Bildungskarrieren lassen sich die im Stück geschilderten Probleme auch in der heutigen Gesellschaft wiederfinden: Konflikte zwischen Jugendlichen und ihren Eltern im Hinblick auf Schule, Sexualität und Partnerschaften; sexuelle Übergriffe auf Mädchen durch gleichaltrige Jungs, die mit der eigenen Sexualität nicht umgehen können (vgl. die hohe Zahl an Schwangerschaften Minderjähriger); das bisweilen problematische Agieren der Schule gegenüber auffälligen Heranwachsenden. Das Stück bietet somit die Möglichkeit, auf den Umgang mit Missbrauch durch Gleichaltrige, aber auch auf Themen wie Leistungsdruck und Versagensängsten einzugehen. Indem, davon ausgehend, präventive Gegenmaßnahmen entwickelt werden können, beweist es ein hohes didaktisch-pädagogisches Potential. Darüber hinaus ist es sinnvoll, sich den geschilderten Konflikten und besonders der scharfen Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft des Kaiserreichs kultur- und mentalitätsgeschichtlich zu nähern, um in der Analyse der Differenzen und Ähnlichkeiten mit heutigen Gegebenheiten das Bewusstsein für Gegenwart und Vergangenheit zu schärfen. Literaturgeschichtlich zeigt Wedekinds vitalistisch motivierte Zeitdiagnose sehr eindrücklich, wie engagierte Literatur jenseits des Naturalismus sich durch Orientierung an früheren Darstellungsmodellen (Büchner, Grabbe) neue Formen der literarischen Gesellschaftskritik erschließt und dem expressionistischen Drama den Weg bereitet.
Frank Wedekind: Frühlings Erwachen (1891)
Literaturwissenschaftl. Einordnung & Deutungsperspektiven
Wedekind: „Frühlings Erwachen“: Herunterladen [pdf][219 KB]
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