Beziehungskompetenz nach Joachim Bauer
Beziehungskompetenz nach Joachim Bauer 1
Anerkennung, Zugewandtheit und Vertrauen sind der neurobiologische Treibstoff der Motivationssysteme. Die wichtigsten Komponenten gelingender zwischenmenschlicher Beziehung sind:
1. Sehen und Gesehenwerden
Mit Hilfe des optischen Aufbereitungs- und Interpretationssystems STS 2 (sulcus temporalis superior) nimmt der Mensch ständig intuitiv wahr, in welcher Weise er als Person von den ihn umgebenden Menschen wahrgenommen wird. Kleinste Signale geben ihm Aufschluss darüber, ob ihm ein „Ansehen gewährt“ wird oder nicht. Die Sprache hat für diesen Sachverhalt beredte Ausdrücke: „Er hat sein Ansehen verloren“, „Sie steht in hohem Ansehen!“, „Man würdigt ihn keines Blickes“, „Sie hat mir einen wohlwollenden / verzeihenden / vernichtenden / strafenden / anerkennenden Blick zugeworfen“ usw. Nichtbeachtung bzw. Beschämung ist ein Beziehungs- und Motivationskiller ersten Ranges und Ausgangspunkt für aggressive Impulse, wohingegen man inzwischen weiß, dass schon ein positiver Blickkontakt die Motivationssysteme aktiviert (-> „Sie hat mir ein Lächeln geschenkt !“ Der Dopaminspiegel steigt messbar an ) . Schüler haben – aufgrund ihres noch großen Bedürfnisses nach Spiegelungsprozessen mit Erwachsenen – ein sehr sensibles Wahrnehmungsvermögen, ob sie den Erwachsenen „einen Blick wert“ sind oder ob sie kaum wahrgenommen werden. Im Schulalltag kann – bei entsprechender Bewusstheit über diesen Tatbestand – sehr viel Beziehungsförderndes geschehen; es braucht nur ein wenig Achtsamkeit und Übung.
Kinder nehmen wahr, wie sie von Erwachsenen wahrgenommen werden, weil sie unbewusst eine Auskunft über sich selbst erwarten:
- „Lass mich spüren, dass ich da bin!“
-
„Zeig mir, durch die Art, wie du auf mich reagierst, wo ich gut bin und
wo ich mich verbessern muss. Zeig mir, wer ich bin. - „Zeig mir, was ich werden kann, was meine Potentiale sind (was du mir zutraust). Die im Pädagogen durch ein Kind hervorgerufene Resonanz ist „self fulfilling prophecy“.
- Der Erziehungsprozess (die „Beziehung“) besteht in dem, was wir in Kindern wahrnehmen und in dem, was wir zurückgeben – wie soll das passieren bei 30 Kindern in der Klasse?
Ein Lehrer, der für seine Schüler wohlwollende Blicke hat, ermutigt sie dadurch, sich zu zeigen. Allerdings müssen Schüler auch lernen, sich anschauen zu lassen. Wer sich immer versteckt, wird auch nicht wahrgenommen. Wenn Lehrer mit ihren Schülern einüben, sich zu zeigen, wirkt dies ebenfalls Beziehung stiftend.
2. Gemeinsame Aufmerksamkeit
Sich dem zuzuwenden, wofür sich eine andere Person interessiert, ist die einfachste Form der Anteilnahme und hat ein erhebliches Potential, Verbindung herzustellen. Solange Schüler das Gefühl haben, dass sie sich ausschließlich für das interessieren müssen, was ihnen die Lehrer vorgeben, ergibt sich daraus nicht das Gefühl einer gemeinsamen Aufmerksamkeit. Zeigt ein Lehrer gar kein Interesse an dem, was seine Schüler bewegt, wird dies als Geringschätzung erlebt. Auch wenn nicht konzentriert zugehört wird, wenn sich ein Schüler seinem Lehrer mitteilen will, wirkt das dämpfend auf die Motivation, sich weiter für die Beziehung (zum Lehrer) zu engagieren: der Schüler zieht sich emotional und oft mit einem beschädigten Selbstwertgefühl zurück.
3. Emotionale Resonanz
Gemeint ist die Fähigkeit, sich zu einem gewissen Grade auf die Stimmung eines anderen einzuschwingen oder andere mit der eigenen Stimmung anzustecken. Wem diese Fähigkeit nicht von Natur aus geschenkt ist, kann durch etwas innere Achtsamkeit zumindest verhindern, dass durch Nicht beachtung dieses Elements in Beziehungen Schaden entsteht. Einem Schüler, der gerade vom Tod seines Haustieres berichtet, unvermittelt und in trockenem Ton zu sagen, dass wir schließlich alle einmal sterben müssen, wäre ein Beispiel fehlender Resonanz. Wenn ein Kind seiner Lehrerin von seinen Ängsten erzählt, sollte die Lehrerin das Kind nicht freundlich lächelnd anstrahlen. Weil strahlendes Lächeln nicht zum Gefühl der Angst passt, wird das Kind das Lächeln so deuten, dass die Lehrerin für sein Gefühl kein Verständnis hat. Mitfühlende Betroffenheit, die sich in einer stimmigen Mimik und Gestik zum Ausdruck bringt, ohne allerdings ganz im Mitleid aufzugehen, wäre hier ein Zeichen gelungener emotionaler Resonanz. Wer eine traurige Geschichte lachend erzählt, verliert bei den Zuhörern Sympathie, wie entsprechende Untersuchungen gezeigt haben. Eine besondere Form sozialer Resonanz ist das gemeinsame Lachen. Dean Mobbs und Allan Reiss aus Stanford konnten zeigen, dass Witze, Humor und das damit verbundene Lachen an eine Reaktion des Kernstücks der Dopamin-Achse gekoppelt ist. Die Dopamin-Achse erhält von den Emotionszentren des Gehirns Informationen darüber, ob in der Außenwelt Objekte vorhanden sind, für die es sich lohnt, aktiv zu werden. Alles, was zwischenmenschliche Resonanz und soziale Verbundenheit erzeugt, scheint für die Bildung dieses Glücksbotenstoffes gut zu sein: Selbst das gemeinsame Singen, aber eben auch gemeinsames Lachen stimuliert die Oxytozin-Produktion. Menschen, mit denen wir gute Erfahrungen machen, aktivieren unsere Motivationssysteme. Sie rufen Sehnsucht nach mehr hervor: Die stärkste und beste Droge für den Menschen ist der Mensch.
4. Gemeinsames Handeln
Etwas ganz konkret miteinander zu machen, ist ein meist völlig unterschätzter, tatsächlich aber in hohem Maße Beziehung stiftender Aspekt. Jeder Lehrer, der mit seiner Klasse einmal eine Klassenaktion, eine Fahrradtour oder einen Landschulheimaufenthalt durchgeführt hat, weiß dies. Trotzdem werden solche Aktionen oft als pädagogischer Luxus angesehen oder zum plumpen Erziehungsmittel degradiert. Erziehung braucht – dies wird an diesem Punkt sehr deutlich – ein großes Engagement. Bequemlichkeit verträgt sich mit guter Beziehungsgestaltung grundsätzlich schlecht. Erfahrene Kollegen, die sich dieser wichtigen Beziehung stiftenden Komponente bewusst sind und dementsprechend arbeiten, sagen: „Pro Schuljahr sollten drei bis vier Klassenaktionen durchgeführt werden.“ Kleinere Formen gemeinsamen Handelns sind Gruppenspiele, bei denen der Lehrer mitmacht. Wenn die Schüler ihren Lehrer bei solchen Aktivitäten erleben, wird dies auch ihre Bereitschaft steigern, die schulische Lernarbeit als gemeinsame Aufgabe zu sehen, was sich unmittelbar positiv auf die Beziehung auswirkt.
5. Grundsätzliche Kooperationsbereitschaft und das angeborene Bedürfnis nach Fairness
In verschiedenen intelligenten Simulationsexperimenten fand man heraus, dass der Mensch prinzipiell auf Kooperation und Fairness angelegt ist, allerdings mit einer interessanten Einschränkung: Kooperation ist nur dann eine optimale Strategie, wenn der Mensch im Falle einer Nichtkooperation des Partners, Gleiches mit Gleichem zu vergelten bereit ist. Dieses „Zurückzahlen“ steht allerdings ganz im Dienst des Grundbedürfnisses nach Beziehung und Bindung und ist diesem unter- bzw. nachgeordnet. Demnach lautet die universale Erfolgsstrategie für gelingende Beziehungen so:
- Sei freundlich (sei primär und als Erster bereit zu kooperieren).
- „Schlage“ bei Unfreundlichkeit „zurück“ (reagiere auf den Versuch, dich zu übervor-teilen bzw. auszunutzen). 3
- Sei nicht nachtragend (versuche es, nachdem du „zurückgeschlagen“ hast, erneut mit Kooperation). Wie wichtig dieses Grundprinzip für die Lehrer ist, kann ermessen, wer sich klar macht, dass gerade im Umbruch befindliche Jugendliche Partner brauchen, die jugendliche Suchbewegungen nicht als persönliche Provokation empfinden, sondern verstehen, dass der Heranwachsende verlässliche Partner braucht, die ihm durch ihr Verhalten spiegeln, welches Wege und welches die Irrwege sind. Da diese Begleitung dem Lehrer enorm viel Kraft abverlangt, muss der Lehrer auch für seine physische und psychische Gesunderhaltung sensibilisiert werden. Andererseits trägt eine gut entwickelte Beziehungskompetenz bereits dazu bei, den Stress, der aus belasteten Beziehungen erwächst, zu vermindern oder gar nicht erst aufkommen zu lassen.
Unser Gehirn scheint so zu funktionieren, dass es nichtkooperative Fairness nicht nur verachtet, es möchte sie sogar bestraft sehen. Es wäre interessant zu untersuchen, wie viele Lehrer durch ungeschickte Beziehungsgestaltung unbewusst und ohne es zu wollen, bei ihren Schülern – genauso unbewusst – das Bedürfnis auslösen, den Lehrer für seine als unfair empfundene Beziehungsgestaltung zu bestrafen. Dies ist sicher ein im Dunkeln sprudelnder Quelltopf für alle möglichen Schwierigkeiten, die Schüler ihren Lehrern machen.
6. Das Verstehen von Motiven und Absichten
Dieser Punkt ist die „Königsklasse“ der Beziehungskunst und gelingt nur, wenn auch die anderen fünf Komponenten eingelöst sind. Motive, Absichten oder Abneigungen richtig zu erkennen und anzusprechen, ist entscheidende Voraussetzung dafür, bei anderen Potentiale zu entfalten. Um jemanden zu verstehen, bedarf es nicht nur einer guten Beobachtungsgabe und intuitiver Fähigkeiten, sondern vor allem auch des Gesprächs. Wo Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern schwierig sind und man den Rat gibt, doch einmal miteinander zu sprechen, hört man von Schülern oft den von einem resignierten Achselzucken begleiteten Stoßseufzer: „Mit ihm oder ihr kann man gar nicht reden!“ Alltägliche Hetze, eine Überfülle von (auch organisatorischen) Aufgaben lassen oft keinen Raum für diese so wichtige Komponente der Beziehungsgestaltung.
Eine verständliche Sparmaßnahme unseres Gehirns ist, dass es sich immer wieder neues Verstehen erspart und stattdessen anderen Menschen Motive und Absichten nach einem Schema unterstellt. Das Ergebnis im Hinblick auf aktuelle Beziehungen ist dann nicht selten verheerend. Diese Gefahr ist besonders für Lehrer groß, weil sie Jahr für Jahr mit immer ähnlichen Problemen aber doch jedes Mal wieder mit „neuen“ Menschen zu tun haben.
Für alle sechs Komponenten gilt: Wechselseitigkeit bzw. Komplementarität sind unverzichtbar. Jede Beziehung sollte ein zweispuriger Weg sein. Die „Gegenspur“ im Auge zu behalten heißt, den anderen zu sehen, ihm dies auch zu zeigen, ein Stück weit seine Befindlichkeit zu erkennen und sich auf ihn einzulassen. Auf der eigenen Spur des Weges sollte sich aber – dies ist durchaus nicht immer der Fall! – ebenfalls jemand befinden: man selbst. Auch man selbst sollte darauf achten, gesehen, d.h. als Person erkannt zu werden.
Zur Person: Joachim Bauer, 56, ist als Universitätsprofessor und Oberarzt an der Abteilung Psychosomatische Medizin der Uni-Klinik Freiburg tätig. Bauer hat über viele Jahre als Neurobiologe geforscht. Er ist Facharzt für Innere Medizin, Psychiater und Psychotherapeut. Seine Spezialgebiete sind depressive Erkrankungen, psychosomatische Erkrankungen und das Burnout-Syndrom. Bauer führt seit mehreren Jahren Schulprojekte durch, die von der Bundesregierung (Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin) sowie von der Max-Traeger-Stiftung gefördert werden. Für seine neurobiologischen Forschungen erhielt er 1996 den renommierten Organon-Preis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie.
1
Leicht verändert und mit Beispielen aus der Schule ergänzt nach: Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit, Hamburg 20075, S. 178 – 182 und S. 190 -197
2
Erläuterung des STS in: J. Bauer, Warum ich fühle, was du fühlst, Heyne 2006, S. 51 - 56
3
„Zurückschlagen“ heißt für uns Pädagogen: Grenzen ziehen und einfordern. Dies muss so gestaltet sein, dass es weder mit Kränkungen noch mit Beschämungen verbunden ist. Pädagogische Grenzziehungen sind auch keine Rache - sondern bewusst gestaltete Erziehungsakte, die auf dem Boden eines grundsätzlichen Wohlwollens dem Kind und Jugendlichen gegenüber zu vollziehen sind.