Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Ver­tie­fungs­mög­lich­keit 2: Ágnes Hel­ler: Kann man zum Füh­len auf­for­dern?

  • Führt eine Pro-Con­tra-De­bat­te durch zur Be­ant­wor­tung der Frage: Kann man zum Füh­len auf­for­dern?
  • Prüft an­schlie­ßend Ágnes Hel­lers Wi­der­le­gung einer These Witt­gen­steins und ver­gleicht sie mit euren ei­ge­nen Bei­trä­gen in der Pro-Con­tra-De­bat­te.

Ágnes Hel­ler:

Witt­gen­stein hat zur Un­ter­schei­dung der wil­lent­li­chen und nicht-wil­lent­li­chen Hand­lung den fol­gen­den theo­re­ti­schen Vor­schlag ge­macht: Be­trach­ten wir als wil­lent­lich das, wozu man ge­for­dert wer­den kann, und als nicht-wil­lent­lich das, wozu man nicht auf­ge­for­dert wer­den kann. So ist die Auf­for­de­rung sinn­voll: „Mach dies oder jenes!“ und sinn­los: „Lass dein Herz po­chen!“ Er be­trach­tet alles als wil­lent­lich, bei dem es über­haupt mög­lich ist, das Ziel zu un­se­rem Ziel zu ma­chen, uns dar­auf zu kon­zen­trie­ren und die dafür nö­ti­gen Mit­tel aus­zu­wäh­len. Im Grun­de ge­nom­men be­stimmt Witt­gen­stein auf diese Wiese nicht das Wil­lent­li­che als sol­ches, son­dern bloß seine Mög­lich­keit.

Das ist eine wirk­lich frucht­ba­re An­nä­he­rung. Sie wird je­doch in dem Au­gen­blick pro­ble­ma­tisch, wo Witt­gen­stein die­sel­be Un­ter­schei­dung auf die Dif­fe­ren­zie­rung von Ge­fühl und Den­ken an­wen­det. Man kann je­man­den zum Nach­den­ken auf­for­dern: „Denk über die­ses oder jenes nach!! – das ist eine sinn­vol­le Auf­for­de­rung. Aber: „Fühle, emp­fin­de dies oder jenes“ ist – laut Witt­gen­stein ein sinn­lo­ses Ver­lan­gen. Folg­lich – der in apho­ris­ti­scher Form schrei­ben­de Witt­gen­stein zieht hier diese Schluss­fol­ge­rung nicht, und an­ders­wo ex­pe­ri­men­tiert er auch mit wi­der­spre­chen­den Fol­ge­run­gen – ist das Ge­fühl nicht wil­lent­lich und kann auch nicht zum Ziel (zum Ob­jekt) des Wil­lens wer­den.

Diese Be­haup­tung ist aber irr­tüm­lich. Man kann näm­lich zum Füh­len auf­for­dern, und noch mehr: Wir tun bei­na­he nichts an­de­res.

Un­ter­su­chen wir zu­nächst das Gebot der Bibel: „Du sollst dei­nen Vater und deine Mut­ter ehren!“ Die­ses Gebot ist im engen Sinne des Wor­tes keine Auf­for­de­rung, son­dern eine Norm. Es wen­det sich nicht an mich oder an dich, son­dern an alle, zu­min­dest an all die, die an Gott glau­ben. Wir könn­ten sagen: Die Norm ge­bie­tet nicht das Ge­fühl der Ach­tung, son­dern das Ach­tung aus­drü­cken­de Ver­hal­ten. Das trifft aber nicht zu. Eine Norm ist näm­lich zu­gleich ge­fühls­lei­tend. D.h. nicht, dass die Norm Ur­sa­che des Ge­fühls bzw. der Ge­fühls­än­de­rung wäre, son­dern, dass sie – im ge­sell­schaft­li­chen Durch­schnitt – deren In­di­ka­tor ist. Dies er­fah­ren wir alle – wenn auch nur ne­ga­tiv – an uns selbst. Wenn je­mand ent­spre­chend einer an­er­kann­ten und von ihm selbst an­er­kann­ten Norm han­delt, aber nicht da­nach emp­fin­det, dann ist er sich im Kla­ren dar­über, dass er der Er­war­tung der Norm nicht ent­spricht. Wenn ich für mich das Gebot „Du sollst dei­nen Vater und deine Mut­ter ehren“ als hei­li­ge Vor­schrift an­neh­me, dann emp­fin­de ich, wenn ich mich auch noch so ehr­fürch­tig be­neh­me, in­so­fern ich die Ehr­furcht nicht fühle, Ge­wis­sens­bis­se. Dar­aus folgt: Ich schie­be also die meine Ehr­furcht stö­ren­den Ge­füh­le wil­lent­lich in den Hin­ter­grund, da ich meine El­tern ach­ten will.

2. Die im engs­ten Sinne des Wor­tes ver­stan­de­ne Auf­for­de­rung kann sich auch auf Ge­füh­le rich­ten. Wir sagen „Schä­me dich!“ oder: „Ver­traue mir!“ oder „Hab keine Angst!“ oder „Be­ru­hi­ge dich!“.

Wir haben es hier na­tür­lich mit ver­schie­de­nen Typen der Auf­for­de­rung zu tun.

Un­ter­su­chen wir zu­nächst zwei mit­ein­an­der ver­wand­te Auf­for­de­run­gen: „Schä­me dich!“ (Du hast je­man­den beim Leh­rer ver­petzt) und „Hab keine Angst!“ (z.B. die Stra­ße zu über­que­ren). Was tun wir ei­gent­lich, wenn wir so etwas sagen? Wir ver­mit­teln in Form der Auf­for­de­rung eine ge­sell­schaft­li­che Norm bzw. eine ge­sell­schaft­li­che Er­fah­rung. Es ist na­tür­lich klar: Weil wir zu je­man­dem ge­sagt haben: „Schä­me dich!“, wird sich der Auf­ge­for­der­te noch nicht not­wen­di­ger­wei­se schä­men, und wenn wir je­man­dem sagen: „Fürch­te dich nicht!“, wird die Angst des Auf­ge­for­der­ten noch nicht not­wen­di­ger­wei­se ver­schwin­den. Eines ist aber si­cher: der­je­ni­ge, dem noch nie ge­sagt wor­den ist, dass er sich schä­men soll­te, der wird, zu­min­dest im ge­sell­schaft­li­chen Durch­schnitt, nie Scham emp­fin­den. Der­je­ni­ge, dem ge­sagt wurde, dass er sich fürch­ten soll, und nicht, dass er sich nicht fürch­ten soll, wird, zu­min­dest im ge­sell­schaft­li­chen Durch­schnitt, in der ge­ge­be­nen Si­tua­ti­on, hin­sicht­lich des ge­ge­be­nen Ob­jek­tes, Furcht emp­fin­den. Es ist das Gebot: „Fürch­te Gott!“, das die Got­tes­furcht bei den Men­schen, bei denen sich diese wirk­lich aus­bil­de­te, zeigt, ob­wohl bei Wei­tem nicht alle, die dazu auf­ge­for­dert wor­den sind, Gott wirk­lich fürch­ten. Die Auf­for­de­run­gen – be­son­ders die, die in der Kind­heit oft wie­der­holt wer­den -, las­sen so tiefe Spu­ren im Leben des Men­schen zu­rück, dass sie sich sogar dann be­merk­bar ma­chen, wenn der Be­tref­fen­de das ge­ge­be­ne Ge­fühl schon nicht mehr für ra­tio­nal hält. Wie viele Er­wach­se­ne schä­men sich, wenn sie das ge­trock­ne­te und un­ge­nieß­ba­re Brot weg­wer­fen, da die El­tern in ihrer Kind­heit bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten zu ihnen „Schä­me dich!“ ge­sagt haben. Wenn Auf­for­de­run­gen nicht dazu führ­ten, dass Ge­füh­le ent­wi­ckelt oder be­fes­tigt wer­den, würde sich die Mehr­zahl der kon­kre­ten Ge­füh­le über­haupt nicht her­aus­ge­stal­ten.

Man kann die Auf­for­de­run­gen wie „Schä­me dich!“ oder „Fürch­te das!“ oder „Hab keine Angst davor!“ fol­gen­der­ma­ßen be­ant­wor­ten: „Ich schä­me mich nicht“ oder „Ich kann keine Angst emp­fin­den“ oder „Ich will mich nicht fürch­ten“. Dies un­ter­schei­det aber noch nicht Füh­len vom Den­ken. Wenn wir je­man­den dazu auf­for­dern: „Denk dies durch!“, dann kann er eben­falls ant­wor­ten: „Ich kann das nicht durch­den­ken.“ Oder „Ich will es nicht durch­den­ken.“ Aber wie die Auf­for­de­rung „Denke es durch!“ einen In­di­ka­tor dar­stel­len kann, dass der Auf­ge­for­der­te spä­ter doch das, wozu er auf­ge­for­dert wurde, durch­denkt, so kön­nen die auf Ge­füh­le ge­rich­te­ten Auf­for­de­run­gen In­di­ka­to­ren dafür wer­den, dass diese Ge­füh­le sich spä­ter bei dem be­tref­fen­den Men­schen ent­wi­ckeln.

Die auf Ge­füh­le ge­rich­te­ten Auf­for­de­run­gen lösen Ge­füh­le selbst­ver­ständ­lich nicht in der Weise aus, wie der auf ein­fa­che Hand­lun­gen ge­rich­te­te Be­fehl (z.B. „Rechts­um, Links­um!“) die Hand­lung selbst aus­löst. Der Wille kann sich näm­lich im Falle der Ge­füh­le nicht nur nach „außen“, son­dern auch nach „innen“ rich­ten: Er bil­det aus bzw. rückt in den Vor­der­grund das eine, schiebt in den Hin­ter­grund bzw. lässt ver­schwin­den das an­de­re Ge­fühl. Dafür reicht meis­tens eine ein­zi­ge Auf­for­de­rung nicht aus., son­dern es ist die Wie­der­ho­lung der Auf­for­de­rung von­nö­ten. Sie muss aber nicht un­be­dingt durch einen an­de­ren Men­schen wie­der­holt wer­den. Wenn der­je­ni­ge, der mich auf­ge­for­dert hat, für mich eine re­prä­sen­ta­ti­ve Per­son ist, dann werde ich die Auf­for­de­rung für mich selbst wie­der­ho­len kön­nen. Die­sen Vor­gang nen­nen wir, unter an­de­ren, In­te­rio­ri­sie­rung.

In eine an­de­re Ru­brik ge­hö­ren die – ge­fühls­be­zo­ge­nen – Auf­for­de­run­gen, die keine Nor­men oder all­ge­mei­nen Er­fah­run­gen ver­mit­teln. Wenn ich je­man­dem sage: „Ver­traue mir!“, dann be­deu­tet das nicht: „Ver­traue dem Men­schen“ oder „Ver­traue all den Men­schen, die mir ähn­lich sind“, son­dern kann Fol­gen­des be­deu­ten: „Ver­traue nie­man­dem, nur mir!“ Wenn ich einem wei­nen­den Kind sage: „Be­ru­hi­ge dich!“, dann kann es vor­kom­men, dass ich den Grund sei­nes Wei­nens gar nicht kenne; daher kann die Auf­for­de­rung nicht mit Fol­gen­dem syn­onym sein: „Du sollst dich in allen sol­chen oder ähn­li­chen Fäl­len immer be­ru­hi­gen!“ D.h. aber nicht, dass alle zu die­ser Ru­brik ge­hö­ri­gen Auf­for­de­run­gen nicht auch Ge­füh­le be­ein­flus­sen könn­ten. Die Auf­for­de­rung kann dabei des­halb so wirk­sam sein – und ist oft höchst wirk­sam -, weil die An­we­sen­heit des an­de­ren Men­schen seine An­teil­nah­me an mei­nen Schmer­zen, Be­mü­hen und an mei­ner Freu­de den Grund für diese Auf­for­de­run­gen dar­stellt. Die An­teil­nah­me des an­de­ren Men­schen an mir wird der An­lass dafür, dass ich be­stimm­te Ge­füh­le in den Hin­ter­grund schie­be oder in den Vor­der­grund rücke, oder sogar dass ich sie aus­bil­de oder un­ter­drü­cke. (S. 46-49)

Phi­lo­so­phie der Ge­füh­le: Her­un­ter­la­den [docx][88 kB]

Phi­lo­so­phie der Ge­füh­le: Her­un­ter­la­den [pdf][323 kB]