David Hume: Stolz
David Hume (1711-1776), schottischer Philosoph des Aufklärungszeitalters, hat im zweiten Buch seines Traktat über die menschliche Natur, den er im Untertitel als An Attempt to introduce the experimental Method of Reasoning bezeichnet, eine ausgearbeitete Philosophie der Psychologie bzw. der Affekte vorgelegt. Er versucht, nicht nur Begriffe zu klären, sondern eine auf Erfahrung beruhende und durch Erfahrung nachvollziehbare Erklärung der Entstehung und Funktion von Gefühlen zu geben. Für ihn ist klar, dass Gefühle („Affekte“) aus einem Zusammenspiel von körperlich-leiblichen und mentale Komponenten bestehen, die wiederum durch soziale Faktoren – wie z.B. die Meinungen anderer und die in einer Gesellschaft anerkannten Werte - beeinflusst sind. Hume schlägt eine Klassifikation der Gefühle vor und formuliert hypothetische Mechanismen, die letztlich auf Assoziationsgesetzen beruhen und die Funktionsweise einzelner Gefühle auf natürliche und allgemein nachvollziehbare Weise erklären sollen. In allen Fällen beschreibt er spezifische Kopplungen – er spricht von doppelten Impulsen - von (Sinnes-) Eindrücken („impressions“) und (gedanklichen) Vorstellungen („ideas“) und er unterscheidet klar zwischen Ursachen und Bezugs-Objekt der einzelnen Gefühle.
Im Fall des Stolzes, gibt er nicht nur eine Beschreibung der Funktionsweise dieses Gefühls, er nimmt auch eine Umwertung vor, indem er auf die im Unterschied zur christlichen und moralistischen Tradition negative Bewertung eine für das Selbstwertgefühl förderliche Rolle des Stolzes betont.
Hume macht auch aufmerksam die Beziehung von Gefühl und Sprache. Wir verstehen einander nur, wenn die gemeinsame Sprache auf der Basis gemeinsamer Absichten (‚kollektive Intentionalität’) gebildet und Bezeichnungen von Bewertungen („Lob und Tadel“) in Übereinstimmung mit geteilten Gefühlen festgesetzt wurde. Zudem vermag der Diskurs über Gefühle (und Charaktere) die individuellen Gefühle zu kultivieren und zumindest intersubjektive Beurteilungskriterien zu etablieren.
Im Folgenden findest du Auszüge seiner Theorie des Stolzes (Ein Traktat über die menschliche Natur. Teilband 2 Buch II Über die Affekte Buch III Über Moral. Auf der Grundlage der Übersetzung von Theodor Lipps neu herausgegeben von Horst D. Brandt, Hamburg, Felix Meiner-Verlag,2013, Bd. II, S. 348-394, engl. orig. 1739/40).
David Hume: Stolz
(1) Wir müssen annehmen, die Natur habe den Organen des menschlichen Geistes eine gewisse Anlage gegeben, die geeignet ist, einen besonderen Eindruck oder eine besondere Gefühlsregung hervorzubringen, die wir Stolz nennen. (350)
(2) Alle Perzeptionen1, die im Geist sich finden, können in Eindrücke und Vorstellungen eingeteilt werden. Die Eindrücke lassen wiederum eine Einteilung in primäre und sekundäre Eindrücke zu. Diese Einteilung deckt sich mit derjenigen [in] Eindrücke der Sinneswahrnehmung und Eindrücke der Selbstwahrnehmung. …Zur ersteren Art gehören alle Sinneseindrücke und alle körperlichen Lust- und Schmerzgefühle; zur zweiten die Affekte und alle ihnen ähnlichen Gefühlsregungen. … Die Eindrücke der Selbstwahrnehmung können wiederum in zwei Gattungen eingeteilt werden, nämlich in ruhige und heftige. Zur ersteren Gattung gehört das Gefühl der Schönheit und Hässlichkeit angesichts einer Handlung, einer künstlerischen Komposition oder äußerer Objekte. Zur zweiten Gattung gehören die Affekte der Liebe, des Hasses, des Grams und der Freude, des Stolzes und der Niedergedrücktheit. … Überblicken wir die Affekte im Ganzen, so ergibt sich wiederum eine Einteilung derselben in direkte und indirekte. Unter direkten Affekten verstehe ich solche, die unmittelbar aus einem Gut oder Übel, aus Lust oder Unlust entspringen; unter indirekten Affekten dagegen verstehe ich solche, die auf derselben Grundlage beruhen, bei denen aber noch andere Momente mitwirken. Diesen Unterschied kann ich im Augenblick nicht weiter rechtfertigen, ich kann nur ganz allgemein bemerken, dass ich unter den indirekten Affekten Stolz, Kleinmut, Ehrgeiz, Eitelkeit, Liebe, Neid, Mitleid, Groll, Großmut und die aus ihnen abgeleiteten Affekte begreife. Und unter den direkten Affekten: Begehren, Abscheu, Kummer, Freude, Hoffnung, Furcht, Verzweiflung und beruhigende Gewissheit. (337 f.; vgl. 510 f.))
(3) Diese indirekten Affekte, die immer angenehm oder unangenehm sind, geben aber ihrerseits den direkten Affekten neue Stärke und vergrößern unser Begehren oder unseren Abscheu angesichts des Gegenstandes. So erregt ein schöner Anzug Freude vermöge seiner Schönheit und diese Freude erzeugt die direkten Affekte oder die Eindrücke des Wollens und Begehrens. Stellen wir uns vor, dass diese Kleider uns gehören, so erzeugt jener doppelte Zusammenhang das Gefühl des Stolzes, das ein indirekter Affekt ist, und die Freude, die diesen Affekt begleitet, wendet sich auf die direkten Affekte zurück und verleiht unserem Begehren und Wollen, unserer Freude und Hoffnung einen Zuwachs an Stärke. (511)
(4) Alles, was eine angenehme Empfindung erregt und mit dem eigenen Selbst zusammenhängt, erregt den Affekt des Stolzes, der gleichfalls angenehm ist und gleichfalls das Selbst zum Objekt hat. So erregt ein schönes Haus, das uns gehört, unsern Stolz und dasselbe uns gehörige Haus erregt unsere Niedergedrücktheit, wenn seine Schönheit durch irgendeinen Unfall in Hässlichkeit verwandelt wird und sich dadurch das Gefühl der Lust, das den Stolz erzeugte, in Unlust verwandelt, die der Niedergedrücktheit verwandt ist. Der doppelte Zusammenhang, einmal zwischen den Vorstellungen, zum andern zwischen den Eindrücken, besteht in beiden Fällen und bewirkt die leichte Verwandlung der einen Gefühlsregung in die andere. (352 f.)
(5) Augenscheinlich haben Stolz und Kleinmut, obgleich sie einander direkt entgegengesetzt sind, dasselbe Objekt. Dies Objekt ist das eigene Selbst oder jene Folge untereinander zusammenhängender Vorstellungen und Eindrücke, die unserer Erinnerung und unserem Bewusstsein unmittelbar gegenwärtig sind. (339)
(6) Aber so gewiss jene zusammenhängende Folge von Perzeptionen, die wir unser Selbst nennen, immer Objekt dieser beiden Affekte ist, so kann sie doch unmöglich ihre Ursache sein, oder allein zu ihrer Hervorbringung genügen. … Alle wertvollen Eigenschaften des Geistes, sei es der Einbildungskraft, der Urteilsfähigkeit, des Gedächtnisses oder des Temperaments; Witz, Verstand, Gelehrsamkeit, Mut, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit; sie alle sind mögliche Ursachen des Stolzes und die gegenteiligen Eigenschaften mögliche Ursachen der Niedergedrücktheit. Aber die fraglichen Affekte sind nicht ausschließlich an Eigenschaften des Geistes gebunden, sondern sie beziehen sich auch auf den Körper. Ein Mensch kann auf seine Schönheit, seine Kraft, seine Behendigkeit, sein gutes Aussehen, seinen Anstand beim Tanzen, Reiten, Fechten stolz sein, auf seine Geschicklichkeit in einem Handwerk oder einer Handfertigkeit. Und auch das ist noch nicht alles. Der Affekt zieht seine Kreise weiter und umfasst alles, was uns irgendwie angehört. Unser Vaterland, unsere Familie, unsere Kinder, unsere Verwandten, unsere Reichtümer, Häuser, Gärten, Pferde, Hunde, Kleider, alles kann Ursache des Stolzes oder der Niedergedrücktheit werden.
Aus dieser Betrachtung der Ursachen [des Stolz-Affekts] ergibt sich, dass wir eine weitere Unterscheidung in diesen Ursachen vornehmen müssen. Wir müssen die Eigenschaft, welche wirkt, und den Gegenstand, dem sie eigen ist, unterscheiden. Ein Mensch ist beispielsweise stolz auf ein schönes Haus, das ihm gehört, oder das er selbst gebaut und zustande gebracht hat. (340 f.)
(7) Neben diesen direkten Ursachen des Stolzes und der Niedergedrücktheit [gibt es] noch eine sekundäre Ursache. Dieselbe beruht auf den Meinungen [und Gefühlen] anderer und wirkt in gleicher Weise auf unsere Gemütsbewegungen. Unser Ruf, unser Rang, unser Name, das sind schwerwiegende und bedeutsame Gründe für den Stolz; ja die anderen Ursachen des Stolzes - Tugend, Schönheit, Macht und Reichtum – haben wenig Wirkung, wenn die Meinungen und Anschauungen anderer ihnen nicht Vorschub leisten. (381 f., vgl. ebd. 367)
(8) Wir haben vier Affekte, die gewissermaßen ein Quadrat bilden, regelmäßig miteinander verbunden sind und in gleichen Abständen voneinander stehen. Die Affekte des Stolzes und der Niedergedrücktheit, und ebenso die der Liebe und des Hasses, hängen durch die Identität des Objektes zusammen; dasselbe liegt für das erste Affektpaar im eigenen Selbst, für das zweite in irgendeiner anderen Person. Diese beiden Verbindungen oder Zusammenhänge bilden zwei entgegengesetzte Seiten des Quadrats. Ferner sind Stolz und Liebe angenehme Affekte, Hass und Niedergedrücktheit unangenehme. Die Gleichheit des Gefühls bei Stolz und Liebe einerseits und bei Hass und Niedergedrücktheit andererseits ergibt eine neue Verbindung; und diese beiden Gleichheiten können vorgestellt werden als die beiden anderen Seiten des Quadrats. Zusammengefasst: Stolz steht mit Niedergedrücktheit, Liebe mit Hass durch ihre Objekte oder Vorstellungen in Zusammenhang, Stolz mit Liebe, Niedergedrücktheit mit Hass durch die Art der Gefühle oder Eindrücke, die sie erregen. (399 f.)
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(9) Das Wort »Stolz« wird gemeinhin in einem negativen Sinn gebraucht; aber dieses Gefühl scheint indifferent zu sein und kann gut oder schlecht sein, je nachdem, ob es gut oder schlecht begründet ist und je nach Beschaffenheit sonstiger Begleitumstände. Die Franzosen gebrauchen für dieses Gefühl den Ausdruck amour propre. (UPM, S. 184)
(10) Je häufiger wir mit Menschen zusammenkommen und je intensiver der soziale Kontakt ist, den wir pflegen, desto mehr werden uns diese allgemeinen Bevorzugungen und Unterscheidungen vertraut werden, ohne die unser Gespräch und unsere Rede anderen kaum verständlich wäre. Das persönliche Interesse jedes Menschen ist eine ihm eigentümliche Angelegenheit, und man kann nicht annehmen, dass die daraus resultierenden Abneigungen und Wünsche andere in einem gleichen Maße berühren. Die gemeinsame Sprache muss also, da sie zu einem gemeinsamen Gebrauch geformt wurde, auf der Basis gemeinsamer Absichten gebildet sein und muss die Bezeichnungen von Lob und Tadel in Übereinstimmung mit den Gefühlen festsetzen, die in den gemeinsamen Interessen der Gesellschaft wurzeln. […] Mitgefühl ist, wie wir zugeben, weit schwächer als unser Eigeninteresse; und das Mitgefühl mit Personen, die uns fernstehen, ist viel schwächer als mit Personen, die nahe sind und uns nahestehen; aber genau aus diesem Grund ist es für uns notwendig, in unseren ruhigen Urteilen und Gesprächen über die Charaktere der Menschen alle diese Unterschiede zu vernachlässigen und unsere Gefühle allgemeiner und sozialer zu machen. Abgesehen davon, dass wir selbst unseren Standpunkt in dieser Hinsicht häufig ändern, treffen wir jeden Tag Menschen, deren Situation sich von der unseren unterscheidet und für die eine Verständigung mit uns unmöglich wäre, würden wir beständig auf jenem Standpunkt und auf der uns eigenen Betrachtungsweise beharren. Der Austausch von Gefühlen in Gesellschaft und Gespräch bewirkt, dass wir einen allgemeinen, unveränderlichen Maßstab formen, nach welchem wir Charaktere und Sitten gutheißen und ablehnen können. Und obwohl unser Herz an diesen allgemeinen Begriffen nicht vollständig Anteil nimmt und auch nicht seine Liebes- und Hassgefühle ohne Rücksicht auf das eigene Selbst oder auf uns näherstehende Personen nach den universellen, abstrakten Unterschieden von Tugend und Laster ausrichtet, so haben diese moralischen Unterscheidungen dennoch einen bedeutenden Einfluss und dienen, da sie zumindest für das Gespräch genügen, allen unseren Zwecken in der Gesellschaft, auf der Kanzel, im Theater und in den Schulen. (UPM, S. 79f.)
1 „Perzeptionen“ = Bewusstseinsinhalte
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