Einführung
Einführung in die Unterrichtssequenz: „Loser!“, „Zicke!“, „Freak!“ – Erlebte Unfreiheit und geschenkte Freiheit
Entwicklungspsychologische, didaktische und theologische Überlegungen
Die Einheit greift
die Erfahrungswelt von Jugendlichen in der frühen Adoleszenz
auf. Sie nimmt dabei Bezug auf die entwicklungspsychologisch
bedeutsame Entwicklung eines Selbstkonzeptes und die in dieser
Phase beobachtbaren Attributionsprozesse. Jugendliche erleben in
dieser Phase der eigenen Unsicherheit, wie Urteile anderer Menschen
sie unfrei machen und in ihrem Verhalten disponieren. Die Einheit
bietet Einsicht in die Möglichkeit, durch entsprechende
religiöse Deutungen (am Beispiel Gleichnis, Wunder, Luther)
einengende Denk- und Handlungsmuster („Brandings“) zu
überwinden und somit Freiheit zu erfahren.
Empirischer
Bezugspunkt ist die Studie im Rahmen der 37°-Sendung „Zeit
der Wunder – Wenn Kinder in die Pubertät kommen“.
Die Entdeckung und Entwicklung des „Selbst“ in der Jugendzeit 1
Die Pubertätszeit ist geprägt von der Entwicklung des „Selbst“, genauer gesagt des Selbstkonzeptes. Die auf Piaget zurückgehende Forschung verortet den Beginn dieses Prozesses in die formal-operatorische Phase, also die frühe Adoleszenz. Die Herausbildung eines Selbstkonzeptes stellt eine große Herausforderung für Jugendliche dar, der Prozess ist zu Beginn begleitet von großer Unsicherheit. Mit der Unsicherheit korreliert eine Konzentration auf das eigene Selbst. Es ist das Allerrealste auf der Welt, David Elkind sprich sogar von jugendlichem Egozentrismus, der die Umwelt als imaginäres Publikum betrachtet.
Zentrale Parameter für die Ausbildung des Selbstkonzeptes stellen in der Adoleszenz die äußere Attraktivität, die Einbindung in die Peer-Group sowie schulische Leistungen dar.
Das Selbstwertgefühl in der Jugendzeit ist noch recht fragil und kann zu Krisen mit höchst problematischen Reaktionen führen.
Die Bedeutung von Religiosität und Spiritualität für die Phase der Ausbildung des Selbstkonzeptes wird unterschiedlich gewertet. Es gibt durchaus Befunde, die die positive Bedeutung religiöser Orientierung in dieser Phase unterstreichen.
Dabei kann das
Konzept der „Seele“ neue Deutungsmöglichkeiten bei
der Ausbildung des Selbst eröffnen.
Im Gefolge der
entwicklungspsychologischen Forschungen Piagets wurde der Aspekt der
„Seele“ vernachlässigt und eine binäre
Körper-Geist-Anthropologie entwickelt. Neuere
entwicklungspsychologische Studien v.a. aus dem angelsächsischen
Raum vollziehen eine Erweiterung der Geist-Körper-Dichotomie zur
Triangulation von Körper, Geist und Seele. Die empirische
Untersuchung von Katrin Bederna unterstreicht diese Entwicklung bei
einer Untersuchung mit Schülerinnen und Schüler in höheren
Klassen der Sekundarstufe I. Dabei sind u.a. folgende Aspekte
erkennbar:
- „Seele“ als Oberbegriff für menschliche Eigenschaften
- „Seele“ als Bezeichnung für den Kern, das Wesen, die Identität des Menschen
- „Seele“ als „Gottbezogenheit“ des Menschen, als seine spirituelle bzw. religiöse Seite2
Diese auf empirischer Basis gewonnenen Ergebnisse bilden den Ansatzpunkt für den theologischen Bezug der Einheit.
Theologische Implikationen
Die in empirischen Untersuchungen erhobene Triangulation von Körper Geist und Seele entspricht theologischen Ansätzen der Anthropologie.
Edgar Thaidigsmann erarbeitete in seiner Studie „Theologische Anthropologie – Systematische Ansätze“ aus Martin Luthers Auslegung des Magnificat eine dreistufige Anthropologie, die sich sehr gut auf die Erfahrungswelt Jugendlicher übertragen lässt3.
In Anknüpfung an das Bild des Wanderheiligtums mit den drei Räumen, dem Vorhof, dem Heiligen und dem Allerheiligsten entwickelt Luther drei Dimensionen des Menschseins:
- die öffentliche Erscheinung des Menschen (seine leibliche Existenz),
- seine rationale Weltbeziehung (Geist) und
- das Geheimnis seiner Person (Seele).
Diese drei Aspekte können beim Selbstkonstrukt Jugendlicher große Relevanz erhalten. Jugendliche reflektieren, in wie weit ihr Erscheinungsbild, ihre Kleidung, ihre Haltung auf andere wirken. Sie erschließen die Welt, entdecken neue Räume des Menschseins, machen neue Erfahrungen mit bisher unbekannten Stoffen und erleben die eigne Person, das Selbst, das für andere unverfügbar bleibt.
Der
Aspekt der Freiheit ist auf allen drei Ebenen wirksam. Jugendliche
spielen mit ihrem Aussehen, probieren neue Kleidung, neue
Haarschnitte, provozieren und warten auf Reaktionen.
Sie
entdecken Neues, indem sie in Räume gehen, die bisher
verschlossen waren und Stoffe ausprobieren, die sie bisher nicht
kannten.
Schließlich entdecken sie, dass sie anders sind, als sie nach außen erscheinen, dass niemand anderes ihr wahres Selbst kennt.
Nimmt man die drei von Thaidigsmann herausgearbeiteten Dimensionen ernst, ergeben sich folgende Überlegungen, die für die didaktische Umsetzung relevant sein können:
Die erlebte Unfreiheit durch Zuschreibung von Verhaltenserwartungen kann durch eine Neuausrichtung auf die Unverfügbarkeit der Person überwunden werden. Die für den Unterrichtsentwurf gewählten religiösen Beispiele eröffnen die Möglichkeit von Befreiung und Freiheit durch die Deutung des eigenen Lebens als eines unverfügbaren Gutes, weil die Menschen in ihrer Beziehung zu Gott sich als geliebtes und angenommenes Wesen erleben.
Attribution als Schlüssel zum Verstehen des Erlebens und Verhaltens
Die Attributionsforschung hat die Ursachenzuschreibung für eigene und fremde Handlungen zum Gegenstand. Sie übernimmt dabei die Aufgabe, überdauernde Muster, Schemata (Schema) oder Kategorien zu beschreiben, die dazu verwendet werden, Ereignisse oder Handlungen zu erklären, und sie stellt die Schlussfolgerungsprozesse dar, die angewendet werden, um die Gründe und Ursachen zu finden, die den beobachtbaren Ereignissen oder Handlungen zugesprochen werden.4
Unter Attribution oder Attribuierungsverhalten verstehen wir die Zuschreibung von Ursachen für eigenes oder fremdes Verhalten. Dabei wird unterschieden zwischen internaler und externaler Attribution. Ursachen für Erfolg oder Misserfolg, Wünsche und Gefühle werden subjektiven oder objektiven Faktoren zugeschrieben. Ursachen für Misserfolg können äußere, also externale Umstände sein (Pech, Schwierigkeit der Aufgabe), sie können aber auch in der in der eigenen Person liegen (Fähigkeit, Anstrengung). Das gleiche liegt bei der Deutung von Beliebtheit, von Problemen im Umgang mit Erwachsenen und Gleichaltrigen, aber auch in der Interpretation etwa von aggressivem Verhalten. Immer können externale oder internale Gründe herangeführt werden.
Die frühe Adoleszenz ist geprägt von Unsicherheit der Deutung des eigenen Empfindens und Handelns. Bin ich erfolgreich, weil ich so toll bin oder habe ich nur Glück? Bin ich verantwortlich dafür, dass andere mich nicht mögen oder habe ich nur Pech?
Die Differenzierung zwischen externalen und internalen Gründen bei der Deutung des eigenen Erlebens und Verhaltens muss erst mühsam erworben werden. In der Phase der Adoleszenz bilden sich Muster von Zuschreibungen von Schuld und Verantwortung, die den Prozess des Erwerbs eines Selbstwertgefühls erschweren. Gerade solche Muster von Zuschreibungen können als traumatisierende Stigmata erlebt werden.
„Zeit der Wunder: Wenn Kinder in die Pubertät kommen“
Die im Rahmen der 37°-Reihe des ZDF veröffentlichte Dokumentation „Zeit der Wunder: Wenn Kinder in die Pubertät kommen“ aus dem Jahr 2007 beschreibt in einer Langzeitstudie die Entwicklung der Jugendlichen Rebecca (13 Jahre), Susanne (11 Jahre), Benny (13 Jahre) und Renke (12 Jahre). Diese werden von Ende 2004 bis Anfang 2007 mit der Kamera begleitet und in ihrem familiären Kontext und ihrem jeweiligen Freundeskreis gezeigt.
Dabei kommen Themen zur Sprache, die den Feldern der empirischen Studien zur Ausbildung des Selbstwertgefühls im Übergang von der Kindheit zur Jugendzeit entsprechen: Die für die Kindheit prägenden Domains „schulische und sportliche Leistungen“, „Beliebtheit bei Gleichaltrigen“ sowie „Aussehen“ und „Verhalten“ werden in der Jugendzeit ergänzt u.a. durch die Bedeutung von Freundschaft und romantische Ausstrahlung.
Im Umgang mit Sexualität und Alkohol, in Fragen von Freundschaft und Intimität, im Ablöseprozess von den Eltern manifestiert sich eine Suche der eigenen Identität.
Die in dieser Dokumentation beschriebenen Entwicklungen der vier Jugendlichen entsprechen den Ergebnissen der entwicklungspsychologischen Studien. Diese Entwicklung ist auch geprägt durch
- Unsicherheit bei der Ausbildung eines tragfähigen Selbstkonzeptes
- Egozentrismus im Sinne einer Konzentration auf das eigene Selbst und die Zuschauerrolle der Umwelt, vor allem der nahen Bezugspersonen
- Offenheit für Impulse von außen, die Orientierung geben und festgefahrene Denkmuster aufbrechen
Überlegungen
zur didaktischen Umsetzung
Jugendlichen in der frühen Adoleszenz stellt sich die Aufgabe der Entwicklung eines Selbstkonzeptes Diese Phase ist begleitet von einem Egozentrismus, der das eigene Erleben, das eigene Urteil und das Urteil über die eigene Person in das Zentrum des Denkens stellt. In dieser Phase sind Unsicherheiten zu beobachten, die die Bewertung der eigenen Person, des eigenen Verhaltens und der Wirkung auf andere betreffen.
Im Zusammenhang der Attributionstheorie lassen sich diese Unsicherheiten genauer beschreiben. Situationsbedingte externe Faktoren werden internalisiert und als wesentlich für die eigene Person angesehen. Das kann an Beispielen erläutert werden. Beklagt eine Mutter das zickige Verhalten der Tochter, kann es im Zuge der Generalisierung zu dem Selbsturteil kommen: Ich bin eine Zicke. Entwickeln sich aufgrund äußerer Faktoren - etwa im Zusammenhang mit familiären Problemen – die Schulleistungen zum Negativen, kann das Selbstbild des „Losers“ entstehen. Fällt es einem Jugendlichen schwer in seinem Lebensbereich Ordnung zu entwickeln, kann Kritik zu der Internalisierung des Selbstbildes als „Chaot“ führen.
Wir wählten die Metapher „Branding“ als Beschreibung für solche in der frühen Pubertätszeit typischen Internalisierungen. Brandings sind Ziernarben, die auf der Haut angebracht werden. Die internalisierte Selbstbeschreibung „Loser“, „Chaot“, Zicke“ ist solch einem auf der Haut angebrachten Branding vergleichbar.
Jugendliche empfinden solche Zuschreibungen als Ausdruck von Unfreiheit, weil sie Muster umschreiben, die sie zum einen isolieren, zum anderen auch künftiges Verhalten disponieren.
Die Klärung des Begriffs „Branding“ und die Bearbeitung solcher Brandings, verstanden als zugespitzte Formen von Selbstattribution, stellt den Einstieg in unsere Einheit dar. Im weiteren Verlauf der Einheit beziehen wir uns auf zwei biblische Beispiele, in denen solche Brandings spürbar sind. Beim verlorenen Sohn geht es um Selbstzuschreibung als „Loser“, aber eben auch um mögliche Brandings in der Familie. In der Heilungsgeschichte des Aussätzigen wird möglicherweise die soziale Ausgrenzung als Branding erlebt. In der Biografie Martin Luthers kommt es in der Beziehung zum Vater zu Erfahrungen negativer Attribution, aber auch zur Selbstattribution als Versager.
Die Überwindung der in dieser Form erlebten Unfreiheit knüpft an die Überlegung an, dass die religiöse Dimension bei der Entwicklung des eigenen Selbst hilfreich sein kann. Der von Luther entwickelte Begriff für des in Sünde lebenden Menschen als „homo incurvatus in se“ kommt der Beschreibung des durch Selbstattribution in sich selbst gefangenen Menschen sehr nahe, eines Menschen, der gleichsam im Schneckenhaus sitzt und von sich aus nicht mehr herauszukommen vermag.
Im Rahmen dieser Einheit sind die Unterrichtselemente zu Martin Luther (und zwar in der Spiegelung des Lutherfilms von Eric Till [USA 2003]) keinesfalls als Unterrichtssequenz zur Reformation zu verstehen. Sie setzen eine solche Sequenz vielmehr voraus. In einem auch filmdidaktisch akzentuierten Zugriff thematisieren diese Elemente vielmehr zwei Details aus Luthers persönlicher Entwicklung, die im Film eindrücklich dargestellt und auch historisch gut belegt sind. Sowohl der Konflikt mit dem Vater5 als auch Luthers skrupulöses Sündenbewusstsein und seine andauernden Selbstzweifel6 können dabei unter der Leitperspektive des Brandings betrachtet werden, ohne dass didaktisch oder historisch eine unangemessene Überdehnung der Begrifflichkeit eintritt.
Bonhoeffers Gedicht aus der Gefängniszeit in Berlin-Tegel ist in hohem Maße durch einen Kontrast zwischen vermeintlich selbstsicherer Außenwirkung und innerer Zerrissenheit und Ängstlichkeit geprägt. Innerhalb des Gedichts tritt dieser Zwischenspalt formal durch eine kunstvoll arrangierte Spannung von Zuschreibungen auf: einerseits wird dem Gefangenen Bonhoeffer „von außen“ ein gelassen-souveräner Umgang mit der Situation bescheinigt. Andererseits überfallen Bonhoeffer aber Verzweiflung und Angst, was den anderen Gefangenen verborgen ist. Damit aber wird der negativ akzentuierte Begriff des Brandings neu akzentuiert. Es kommt nunmehr „von innen“ und nicht mehr von außen.
Damit wird innerhalb des Unterrichts ein neuer Aspekt des „Brandings“ sichtbar gemacht. Das „Abstempeln“ muss für einen Menschen nicht von außen kommen, er kann es sich selbst zufügen. Die bei Bonhoeffer greifbare Unsicherheit und Zerrissenheit ist für die Schülerinnen und Schüler in einem von ihrer Lebenswelt historisch und situativ weit entfernten Punkt angesiedelt. Selbstzweifel und Unsicherheit im Umgang mit sich selbst aber sind wesentliche Marker der Pubertätsphase. Genau die beschriebene Distanz aber könnte es ermöglichen, dass die Schülerinnen und Schüler über den sprachlich präsentierten Sachverhalt lebensnah reflektieren können. Sie sind durch den Abstand zur Situation Bonhoeffers nämlich davon befreit, sich beim Nachdenken permanent selbst thematisieren zu müssen.
Die für den Unterricht gewählten biblischen und historischen Beispiele knüpfen an die Erfahrung von schmerzhaften Attributionen an, zeigen aber auch auf, wie erlebte Unfreiheit durch den Bezugspunkt des Glaubens überwunden werden kann.
1 Vgl zum Folgenden Veit-Jakobus Dieterich: Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit – Konturen einer (theologischen) Anthropologie des Jugendalters im Anschluss an empirische Studien, in: »Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken« Anthropologie und Jugendtheologie Jahrbuch für Jugendtheologie Band 3 Herausgegeben von Veit-Jakobus Dieterich, Martin Rothgangel und Thomas Schlag, Stuttgart 2014, S. 91ff
2 Veit-Jakobus Dieterich: Die Entdeckung und Entwicklung des »Selbst« in der Jugendzeit, S. 101
3 Edgar Thaidigsmann, Theologische Anthropologie – Systematische Ansätze, in: »Dann müsste ja in uns allen ein Stück Paradies stecken« Anthropologie und Jugendtheologie Jahrbuch für Jugendtheologie Band 3 Herausgegeben von Veit-Jakobus Dieterich, Martin Rothgangel und Thomas Schlag, Stuttgart 2014, S. 56ff
4 Six, B. (2016). Attribuierung, Attribution. In M. A. Wirtz (Hrsg.), Dorsch – Lexikon der Psychologie. Abgerufen am 01.09.2016
5 Vgl. dazu: Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483- 1521, Stuttgart 1981, S. 18-19; jetzt auch Uwe Hauser: Mehr als Luther. Die Reformation im Südwesten, Karlsruhe 2016, S. 15 (zur hohen Ehrerbietung von Hans Luther gegenüber dem Jurastudenten Martin Luther)
6 Vgl. dazu nur ausführlich: Martin Brecht, Martin Luther. Sein Weg zur Reformation 1483- 1521, Stuttgart 1981, S. 78-79 (Luthers Skrupel bei der ersten Messe hinsichtlich der korrekten und würdigen Gestaltung des Messopfergeschehens).
Einführung in die Stundenverläufe: Herunterladen [doc][547 KB]
Einführung in die Stundenverläufe: Herunterladen [pdf][914 KB]
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