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3 Kon­text in der an­ti­ken In­ter­pre­ta­ti­ons­pra­xis

Wie Sie sehen, klingt unser heu­ti­ges Ver­ständ­nis von "Kon­text" im an­ti­ken Wort­ge­brauch von con­textus im­mer­hin schon an, aber es fehlt doch noch viel zur heu­ti­gen Be­deu­tung des Be­grif­fes. Viel­leicht fra­gen Sie sich nun, ob es denn, wenn das Wort "Kon­text" noch fehlt, in der An­ti­ke auch keine Vor­stel­lung vom "Kon­text" gab - und das glei­che würde dann auch für das ge­sam­te Mit­tel­al­ter gel­ten, denn die Be­deu­tung des Wor­tes con­textus än­dert sich nur wenig!

Nun ist uns die In­ter­pre­ta­ti­ons­pra­xis der An­ti­ke nur ein­ge­schränkt be­kannt, und so sind Ur­tei­le dar­über nur be­dingt mög­lich. Klar ist je­den­falls, dass auch die An­ti­ke ganz selbst­ver­ständ­lich den sprach­li­chen Mi­ni­mal­kon­text, also den Satz­zu­sam­men­hang be­rück­sich­tigt hat, und dass sie na­tür­lich auch je­weils den gan­zen Text (und an­de­re Werke des je­wei­li­gen Au­tors) zur In­ter­pre­ta­ti­on her­an­zog.²³ Auch der sach­li­che Kon­text, d. h. alles was mit dem Ge­gen­stand des Tex­tes zu­sam­men­hängt, wurde selbst­re­dend be­rück­sich­tigt. Die an­ti­ke Phi­lo­lo­gie hat tat­säch­lich ein hohes, nicht zu un­ter­schät­zen­des Ni­veau er­reicht.

Was ihr je­doch viel­leicht ten­den­zi­ell fehlt, ist ein Be­wusst­sein für die zeit­li­che und le­bens­welt­li­che Dis­tanz eines Tex­tes bzw. des Au­tors: Texte wer­den meist aus der Zeit, dem Be­wusst­sein und den Vor­stel­lun­gen des In­ter­pre­ten her­aus in­ter­pre­tiert, und auch an­hand der ak­tu­el­len poe­to­lo­gi­schen bzw. li­te­ra­tur­theo­re­ti­schen Idea­le be­ur­teilt. 24 Für den an­ti­ken Men­schen hängt noch die ganze Welt als ge­schlos­se­ner Kos­mos zu­sam­men, 25 und so ist es ihm eher fremd, zu ver­mu­ten, dass Men­schen an­de­rer Zei­ten und Län­der grund­le­gend an­ders den­ken könn­ten. 26 Die Sit­ten und Ge­bräu­che der "Bar­ba­ren" wer­den zwar mit Neu­gier als selt­sam und ku­ri­os be­trach­tet, aber diese Sit­ten und Ge­bräu­che er­schei­nen ja vor allem des­halb so selt­sam, weil man den An­ge­hö­ri­gen frem­der Völ­ker im Prin­zip doch die­sel­be Denk­wei­se und Vor­stel­lungs­welt wie der ei­ge­nen Ge­sell­schaft un­ter­stellt.

Wenn es sich also nicht ge­ra­de um die spür­bar ver­al­te­te, daher in sich er­klä­rungs­be­dürf­ti­ge Spra­che Ho­mers han­delt, so stellt der an­ti­ke In­ter­pret Texte ten­den­zi­ell un­be­wusst in den Kon­text sei­ner ei­ge­nen Zeit statt in den Kon­text der Le­bens­welt des Au­tors. Diese ele­men­ta­re Kom­po­nen­te un­se­res Kon­text-Ver­ständ­nis­ses: die Ver­haf­tung in der Le­bens­welt des Au­tors, fehlt also oft noch oder ist zu­min­dest un­ter­ent­wi­ckelt; sie dürf­te erst mit dem Stau­nen der frü­hen Neu­zeit vor der Viel­falt des Men­schen, sei­nen Sit­ten und Denk­wei­sen ganz her­vor­ge­tre­ten sein. 27

 


23 Vgl. etwa die er­hal­te­nen phi­lo­so­phi­schen Kom­men­ta­re zu den Wer­ken Pla­tons und Aris­to­te­les'; Au­to­ren wie Sim­pli­ki­os und Phi­lo­po­nos sind höchst ver­sier­te In­ter­pre­ten und wer­den immer noch viel zu wenig be­rück­sich­tigt.

24 So un­ter­schei­det bei­spiels­wei­se der Gram­ma­ti­ker Didy­mos (laut dem Zeug­nis des Her­mo­ge­nes von Tar­sos) im 1. Jahr­hun­dert n. Chr. sehr scharf­sin­nig zwei Au­to­ren na­mens An­ti­phon, indem er auf die unter die­sem Namen über­lie­fer­ten Schrif­ten sti­lis­ti­sche Kri­te­ri­en an­wen­det; er über­sieht dabei al­ler­dings, dass diese zu An­ti­phons Zeit noch nicht gal­ten und der Stil da­mals mehr dem Genre als der Ma­nier des Au­tors folg­te.

25 Vgl. etwa Jean-Pier­re Ver­nant: Ein­lei­tung. Der Mensch des an­ti­ken Grie­chen­land, in: ders. (Hg.), Der Mensch der grie­chi­schen An­ti­ke, Frank­furt a.M. 1993, 7 - 30.

26 Vgl. etwa die Sitte der in­ter­pre­ta­tio Grae­ca bzw. in­ter­pre­ta­tio Ro­ma­na: frem­de Göt­ter wer­den durch Gleich­set­zung an­ver­wan­delt und in­te­griert.

27 Ich denke etwa an Mon­tai­gne. Bei den So­phis­ten und an­ti­ken Skep­ti­kern ist der Ver­weis auf­frem­de Sit­ten zwar ver­brei­tet, dient aber mehr als re­la­ti­vis­ti­sches Ar­gu­ment denn als echte Wahr­neh­mung des An­de­ren; erst bei Mon­tai­gne herrscht trotz des skep­ti­schen Kon­tex­tes das of­fe­ne und auf­ge­schlos­se­ne Stau­nen mit­samt ech­ter Neu­gier vor.