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8 Kon­textua­li­sie­rung und Kon­text­wech­sel

Wich­tig ist es, zu be­den­ken, dass der Kon­text trotz die­ser Ein­heit nichts Sta­ti­sches ist: es gibt den Kon­text, in dem ein Autor ein Werk ver­fass­te, und den Kon­text, in dem ich es in­ter­pre­tie­re, diese bei­den müs­sen aber kei­nes­wegs iden­tisch sein (sie kön­nen es nicht ein­mal hun­dert­pro­zen­tig) und müs­sen auch in sich nicht die­sel­ben blei­ben. So wie ein Autor sein Werk in einer be­stimm­ten Si­tua­ti­on be­ginnt, es dann aber oft in einer ganz an­de­ren be­en­det (den­ken Sie an die jahr­zehn­te­lan­ge Ent­ste­hungs­ge­schich­te von Goe­thes Faust!), so kön­nen wir auch als In­ter­pre­ten den Kon­text be­stim­men und wech­seln, in­ner­halb des­sen wir ein Werk in­ter­pre­tie­ren.

Wir haben den Akt, dass Autor oder Leser einen Text in einen be­stimm­ten Kon­text "stel­len", be­reits die Kon­textua­li­sie­rung die­ses Tex­tes ge­nannt. Diese kann un­be­wusst ge­sche­hen, wenn wir ein Buch auf­schla­gen und es "ein­fach lesen", aber oft neh­men wir sie auch be­wusst vor. Im ein­fachs­ten Fall ge­schieht dies, wenn wir unser Wis­sen über den Autor oder das Thema ver­grö­ßern und daher den Kon­text prä­zi­sie­ren. Im Ex­trem­fall neh­men wir einen voll­stän­di­gen Kon­text­wech­sel vor. Dies kann un­be­wusst ge­sche­hen, wenn wir uns in der Zu­ord­nung irren, oder be­wusst, z. B. wenn Jorge Luis Bor­ges ein Ge­dicht Valérys unter der Vor­aus­set­zung in­ter­pre­tiert, es stam­me von einem chi­ne­si­schen Dich­ter der Ming-Dy­nas­tie. 52 In die­sen Fäl­len kön­nen wir von einem krea­ti­ven Kon­text­wech­sel spre­chen, egal ob er vom Autor mit Ele­men­ten sei­nes Tex­tes oder vom In­ter­pre­ten mit dem Text vor­ge­nom­men wird. Dabei kann der ori­gi­na­le Kon­text ge­tilgt wer­den oder be­wusst durch­schei­nen, wie wir am Bei­spiel des Lo­thar-Kreu­zes sahen.

Sol­che Kon­text­wech­sel kön­nen sich ins­be­son­de­re spe­zi­ell auf den Autor oder auf den The­men­kon­text be­zie­hen. Bor­ges lässt in einer Er­zäh­lung einen Autor des frü­hen 20. Jahr­hun­derts den Don Qui­jo­te noch­mals schrei­ben - Wort für Wort gleich, aber eben im Kon­text des 20. Jahr­hun­derts und der seit der ori­gi­na­len Ab­fas­sung ver­gan­ge­nen Jahr­hun­der­te. Dass sich damit auch die Be­deu­tung des Ro­mans grund­le­gend än­dert, ob­wohl er doch Wort für Wort gleich bleibt, ist be­ein­dru­ckend. 53

 


52 Oder so ähn­lich. Ich be­zie­he mich hier auf ei­ni­ge früh ver­öf­fent­lich­te Es­says von Bor­ges, die er spä­ter lei­der voll­stän­dig ein­sam­mel­te und ver­nich­te­te, so dass man nur in Nach­wor­ten und Bio­gra­phi­en das eine oder an­de­re dar­über er­fährt.

53 Jorge Luis Bor­ges, Pier­re Men­ard, autor del Qui­jo­te (1939), deutsch etwa in: ders., Fik­tio­nen. Erz äh­lun­gen 1939-1944, Frank­furt a.M. 1992, 35 - 45. Diese Er­zäh­lung hat auch die Li­te­ra­tur­wis­sen­schaft und ihr Um­feld stark be­ein­flusst, vgl. etwa Vol­ker Jarck: In­ter­tex­te, Iden­ti­tä­ten, Ir­ri­ta­tio­nen. Zu Jorge Luis Bor­ges' Pier­re Men­ard, autor del Qui­jo­te, unter http://​www.​ruhr-​uni-​bo­chum.​de/ kom­pa­ra­tis­tik/for­schung/theo­mod­meth_­men­ard.html, mit Li­te­ra­tur­hin­wei­sen.