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2 Technische Bedeutungen in der Antike

Dies wäre also die erste technische Bedeutung, in der contextus auf sprachliche Erzeugnisse angewandt wird; sie gehört in den Kontext der antiken Rhetorik, die ja als erste Disziplin eine detaillierte Theorie für Textverfertigung und -kritik entwickelt hat.

Bei dem kaiserzeitlichen Rhetoriker Quintilian, 9 der die gesamte bisherige Theorie der Redekunst ordnet und zusammenfasst, wird contextus im Sinne von "Zusammenhang" und "Abfolge" in höchst unterschiedlichen Konkretheitsstufen angewandt, vom Inhalt der Rede bis zu ihrer Lautgestalt beim Vortrag. 10 So spricht Quintilian vom contextus als der "Abfolge der Taten und Aussprüche", die man in einer Rede lobt¹¹, vom Zusammenhang der Einzelpunkte, "wenn ohne Absetzen im Zusammenhang (contextus) und Verlauf [der Rede] immer etwas nachfolgt"¹², ja sogar vom contextus als der "Aufeinanderfolge" mehrerer kurzer Silben¹³. Bei späteren Rhetoriktheoretikern nden sich noch weitere Bedeutungen. 14

Gerade diese Vielfalt der Anwendungen zeigt aber, dass es sich noch nicht um einen Fachausdruck mit fixer Bedeutung, sondern eher um ein Synonym handelt. 15 Zudem lassen sich die meisten Verwendungen noch recht wörtlich auf die Vorstellung eines "ununterbrochenen Zusammenhanges" bzw. der "ununterbrochen verwobenen Abfolge" zurückführen, 16 es ist also noch nicht der Bedeutungskontext imheutigen Sinne gemeint. Dieser klingt allenfalls an, wenn Quintilian einmal sagt: "Ein Urteil über übertragene Ausdrücke lässt sich nur in contextu sermonis, im zusammenhängenden Text gewinnen." 17 Hier ist also immerhin schon der bis heute gültige Gedanke präsent, dass man einen Ausdruck (hier: eine Metapher u. Ä.) nur im jeweiligen Kon-Text beurteilen kann.

Der andere einigermaßen technische Gebrauch gehört in die juristische Sphäre. Er knüpft vielleicht besonders an das adjektivisch gebrauchte Partizip Perfekt Passiv contëxtus/a/um im Sinne von "in sich selbst zusammenhängend, ununterbrochen" an, das von Dingen, aber auch von der Rede gebraucht wird. 18 Nach einer etwa in Frankreich bis heute heute nachwirkenden 19 Vorschrift des Römischen Rechts muss ein Testament uno contextu, d. h. in einem ununterbrochenen Rechtsakt erlassen werden. 20 Praktisch bedeutet dies, dass bei einer Testamentsänderung niemals nur eine einzelne Klausel verändert werden darf: es muss immer der gesamte Texte des Testamentes in einem Sprach- und Rechts akt neu aufgesetzt werden. 21 Hinter diesem zunächst befremdenden Brauch dürfte die kluge Einsicht stehen, dass jede Klausel ihre exakte Bedeutung erst im Kontext (sic!) des gesamten Testamentes gewinnt, daher auch nur in diesem Zusammenhang gültig sein sollte. 22 Obwohl das Wort contextus hier noch "Zusammenhang, Verlauf" bedeutet, ist also doch jedenfalls ein zentraler Gedanke präsent, den wir heute mit dem Kontext verbinden: jedes Textelement verdankt seine Bedeutung dem Kon-Text und sollte daher mit dessen Hilfe beurteilt werden.

 


9 Empfehlenswert ist die bisweilen etwas salopp übersetzte und nicht ganz fehlerfreie, aber praktische Ausgabe von Helmut Rahn: Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners, lateinischRechtsund deutsch, hg. und übers. von Helmut Rahn, 2 Bände, Darmstadt ³1995.

10 D. h. in allen (meist fünf ) Stadien der Verfertigung einer Rede, den partes artis bzw. den offcia oratoris (wie man neuerdings oft liest; letztere sind nicht mit den drei offcia oratoris im Sinne von Ciceros Orator zu verwechseln!).

11 Quintilian III vii 15: "operum id est factorum dictorumque contextus".

12 Ebd. VIII iv 8: "in contextu et cursu"; es geht darum, wie man Steigerungsstufen einsetzen soll.

13 Ebd. IX iv 66: "brevium contextu"; vgl. Lausberg : Handbuch § 961.

14 So bezeichnet das als Adjektiv gebrauchte Partizip contextus/a/um (also "verwoben", "verflochten") verbundene Wörter im Gegensatz zu einzelnen Wörter überhaupt, dann den Periodenstil und besonders die "Wortfolge ohne Atempause" (Lausberg: Handbuch §§ 710. 923. 950. 1054cb. mit Belegen). Martianus Capella beschreibt bei der Gegenüberstellung von zusammenhängender und durch Einschaltungen unterbrochener Erzählung die zusammenhängenden Erzählungen als "continuae [narrationes sunt] quae perpetuae contextu . . . dicuntur" (rhet. 46; 552, p. 486, 33; vgl. Lausberg: Handbuch § 292).

15 Wohl aus diesem Grund fehlt das Stichwort contextus/"Kontext" im Historischen Wörterbuch der Rhetorik (hg. von Gert Ueding, Tübingen 1992,ff.) ebenso wie in Eckart Zundels Clavis Quintilianea ("Quintilians "Institutio oratoria (Ausbildung des Redners)", aufgeschlüsselt nach rhetorischen Begriffen", Darmstadt 1989).

16 Ähnlich urteilt Karlheinz Stierle: Zur Begriffsgeschichte von "Kontext", in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 18 (1974) 144 - 149, hier 144.

17 Quintilian VIII iii 38; es geht um die stilistische Selbstkritik des Redners bei der Auswahl übertragener Ausdrücke.

18 So schon Cornelius Nepos, Atticus 16, 3; vgl. Gemoll: Handwörterbuch s. v. contextus (1.) Bd. 1, 1607.

19 Nach Stierle: Begriffsgeschichte 147.

20 Siehe Ulpianus: Ad Sabium, Corpus iuris civilis, Digesta, rec. Theodorus Mommsen, retr. Paulus Krueger, Dublin/Zürich 18 1966, 817. 40.

21 Vgl. Stierle: Begriffsgeschichte 146 - 149, der die Bedeutung dieser Vorstellung für die Entwicklung des Kontext-Begriffes betont.

22 So angedeutet bei Stierle: Begriffsgeschichte 147; gegen eine andere Deutung, ebd. 148. Dies sollte auch eine Mahnung an uns Interpreten sein, dass zur Auslegung jeder Passage immer der gesamte Texte als Kontext und Maßstab herangezogen werden muss - eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die doch immer wieder vergessen wird, etwa bei einer kurzsichtig-moralisierenden Lektüre der Klassiker oder bei der neuerdings wieder modischen "wörtlichen", d. h. aber meist nur auf Einzelstellen fixierten Bibelauslegung.