6 Die Strukturalismus und die neuere Debatte
Dass "Kontext" für uns heute ein zentraler Fachausdruck, ja ein Denkmuster ist (und vielleicht auch, dass er Eingang in die Abituraufgaben gefunden hat), das verdanken wir den Strukturalisten, die in den 1960er-Jahren die zuvor üblichen Ausdrücke "Wirklichkeit, Welt, Vorstellung" und v. a. "Situation" durch "Kontext" ersetzen wollten. Sie dürften dabei vom soziologischen Gebrauch des Wortes inspiriert worden sein, ihre Absicht war jedoch radikal.
In Konsequenz des linguistic turn, der "Wende zur Sprache" in den Geisteswissenschaften, wollten die Strukturalisten ausdrücken, dass ein Text nie direkt auf die Wirklichkeit referiert, sondern stets nur auf andere Texte; der Interpretationshintergrund jedes Textes ist damit rein sprachlich verfasst, er ist immer ein Kon-Text und niemals dieWelt oder auch nur deren Vorstellung selbst. Dies bedeutet aber zugleich eine radikale Umdeutung des Begriffes "Kontext" selbst. Der Kontext ist jetzt wieder eine rein innersprachliche Angelegenheit (wie am Anfang seiner Begriffsgeschichte), aber diesmal aus dem Grund, dass ein Text überhaupt nur auf andere Texte referiert.
Der primäre Kontext jedes Textes ist damit nicht länger der Sachzusammenhang
seiner Entstehung o. Ä., sondern das ebenfalls textlich verfasste Bewusstsein
des Lesers, innerhalb dessen der Text bei der Lektüre "arbeitet", d. h. seine Bedeutung entfaltet. Wie dies genau aussieht, wird von den Strukturalisten verschieden
beschrieben.
Diese strukturalistische Sicht des Kontextes und ihre verschiedenen Ausgestaltungen wurde sowohl von Phänomenologen als auch von Marxisten heftig kritisiert, womit sich eine Debatte um den Begriff und die Grenzen des Kontextes entspann, die bis heute andauert. Insbesondere ist die Frage, ob ein Text seinen eigenen Kontext erst konstruiert (womit das Ideal einer "objektiven" Interpretation absurd würde), oder ob es doch, wenn auch in Grenzen, so etwas wie einen objektiven und realen Kontext gibt, was besonders der Neue Historismus verteidigt.
Diese Debatte kann, so spannend sie für den Kontext-Begriff wäre,
hier nicht näher verfolgt werden; eine elegante und relativ verständliche
Zusammenfassung der komplizierten Kontroverse hat Vladimir Biti
41 Besonders ragen die Theorien von Lotman, der an Jakobsen anknüpft (Die Struktur des künsterischen Textes (1970), dt. Frankfurt a.M. 1973), und von Roland Barthes (SZ, Paris 1970, dt. Frankfurt a.M. 1994) hervor.
42 Vladimir Biti: Literatur- und Kulturtheorie. Ein Handbuch gegenwärtiger Begriffe (²2000), dt. Reinbek bei Hamburg 2001, 461- 469.