1 Grundbedeutung(en)
Ich hoffe, Sie nicht allzu sehr zu langweilen, wenn wir schlicht mit einem Blick auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes beginnen. Denn der "Kontext" ist - wie schon der "Text" - ein uneigentlicher, übertragener Ausdruck, eine Metapher also; aber eine solche, die wir nicht einfach durch einen "eigentlichen" Ausdruck ersetzen können: es gibt nämlich keinen, wir haben die Metapher mangels eines konkreten Wortes selbst zum eigentlichen Ausdruck gemacht.
Es handelt sich also genauer gesagt um eine "notwendige Metapher", eine Katachrese¹, ja sogar um eine "absolute Metapher" im Sinne Hans Blumenbergs,² da der Ausdruck "Kontext" selbst zu einem kaum mehr hintergehbaren Denkmodell geworden ist, das wir zwar immer wieder neu beschreiben, aber nicht auflösen oder suspendieren können. Wie uns Blumenberg gelehrt hat, ist bei solchen "absoluten Metaphern" die Wortgeschichte besonderer Aufmerksamkeit wert, da wir uns sonst nolens volens immer wieder in den Fallstricken metaphorischer Rede verfangen.
Wie Sie also wahrscheinlich wissen, ist "Text", lateinisch textus (Genitiv
- us, Maskulinum), eigentlich ein textiler Ausdruck; er bezeichnet in der Sprache
der Römer schlicht das "Gewebe", das "Geflecht", und übertragen die
"Zusammenfügung" überhaupt.³ Entsprechend bedeutet das mit der
Vorsilbe con-, also "zusammen-", gebildete Verbum con-texere einfach "zusammen-weben"
und "zusammen-flechten".
Und so ergeht es auch dem Substantiv con-textus (Genitiv - us, Maskulinum):
einerseits bezeichnet es den Akt der "Zusammenfügung", andererseits deren
Resultat, "die enge Verknüpfung od[er] Verbindung, de[n] Zusammenhang",
nämlich zunächst ganzmateriell gedacht von Gebäuden, Dingen und
Körpern.
1 Vgl. etwa Heinrich Lausberg : Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, Stuttgart ³1990, § 562.
2 Hans Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie (1960), Neuausgabe Frankfurt a.M. ²1999, 7-13 u. ö.
3 Nach Karl Ernst Georges : Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch [. . .], Hannover 81913 - 1918, ND Darmstadt 1998, Bd. 2, 3098. Georges' Werk ist zwar überholt, bei den hier interessierenden Stichwörtern ergeben sich jedoch auch im Oxford Latin Dictionary u. ä. neueren Lexika kaum Abweichungen, so dass ich hier auf den leicht greifbaren Georges verweise. - Laut Georges begegnet die Übertragung i. S. v. "Zusammenfügung" bei Lucrez, Plinius u. a. Davon wird textus spätestens in der rhetorischen Theorie der Kaiserzeit auf den "Zusammenhang der Rede" und dann auf "die fortlaufende Rede" überhaupt übertragen (z. B. Quintilian IX iv 13; Gemoll ebd.); noch später kann das Wort sogar den Inhalt der Rede, also das Thema bezeichnen (so bei Ammianus Marcellinus, s. Gemoll ebd.).
4 Georges : Handwörterbuch s. v. contexo, Bd. 1, 1606.
5 Beispiele aus Cicero, Seneca d. Ä. und Quintilian bei Gemoll ebd.
6 Georges : Handwörterbuch s. v. contextus (2.), Bd. 1, 1607.
7 Marcus Tullius Cicero, Partitiones oratoriae (etwa 56 v. Chr.) xxiii 82 : "in toto quasi contextu orationis"; jedenfalls legt Georges ebd. nahe, dass es sich um den ersten erhaltenen Beleg handelt, dies wäre noch zu prüfen.
8 Georges : Handwörterbuch s. v. contextus (2.), Bd. 1, 1607 gibt Beispiele aus Plinius d. J. und Quintilian; zu Quintilians Gebrauch gleich im Folgenden.