5 Die neuzeitliche Bedeutungsentwicklung
So ist es kein Zufall, dass der Begriff "Kontext" seinen Aufstieg gerade mit verschiedenen Epochen der gedankengeschichtlichen Säkularisierung feiert, d. h. vor allem mit verschiedenen Stadien der Wissenschaftsentwicklung. Fassen wir kurz zusammen:
Im 16. und 17. Jahrhundert wird der französische Ausdruck la contexture
beliebt, der die Feinstruktur, die spezielle Beschaffenheit bezeichnet, besonders
von organischen Strukturen. Dies hängt unmittelbar mit der Entdeckung von
tierischen und pflanzlichen Gewebestrukturen mit Hilfe des Mikroskops im
17. Jahrhundert zusammen. Bald wird la contexture auch für die "Webart", die
Feinstruktur literarischer Texte verwendet,
Das Wort "Kontext" selbst wird bis ins 19. Jahrhundert v. a. als Fachausdruck
der Juristen und Theologen verwendet. Im juristischen Kontext hat es die uns
bereits bekannte Bedeutung vom "Zusammenhang" eines Rechtsaktes und damit eines
Rechtstextes behalten. In der Theologie bezeichnet "Kontext" teils den Grundtext
selbst, teils alles, was zu diesem als "Co-Text" dazukommt: Glossen, Anmerkungen
und Kommentare. Mit dem Kontext ist hier also erstmals nicht mehr der innere
Kontext eines Textes selbst gemeint, sondern ein Begleit- und Komplementärtext,
welcher den Primärtext erläutert.
Populär und v. a. in der Literaturkritik üblich wird "Kontext" erst
im 19. Jahrhundert,
- Eine wichtige Anregung für Kontext als "Textzusammenhang, in dem eine Passage beurteilt wird", dürften Stellen wie die zitierte Quintilian-Passage von der Beurteilung übertragener Ausdrücke in contextu sermonis gegeben haben, da sie in Quintilians stilistischer Abhandlung (Buch VIII) steht, die auch dann noch viel gelesen wurde, als die eigentliche Rhetoriktheorie schon in Misskredit geraten war.
-
Dass der Kontext die Einheit des Textes ist, in dem jede Passage steht,
dürfte sich dem juristischen Gebrauch des Wortes verdanken.
39 - Dass der Kontext dem Text gegenübersteht und ihn erläutert, macht der theologische Gebrauch im Sinne von erklärendem Begleittext klar.
- Dass der Kontext auch in der sprachlichen Feinstruktur des Textes selbst besteht, wurde vom Begriff der contexture übernommen.
- Und dass der erste nichtsprachliche Kontext in der Lebenswelt und der Intention des Autors besteht, dieser Gedanke ist typisch für das historische Bewusstsein des 19. Jahrhunderts, welches nach den Anfängen bei Bayle v. a. mit der kritischen Bibelexegese im 18. und 19. Jahrhundert kontrovers, aber umso einflussreicher um sich griff.
Daher ist es kein Zufall, dass statt dem vierfachen Schriftsinn und Ähnlichem im 19. Jahrhundert gerade der historisch verankerte Kontext zum zentralen Interpretationskriterium wurde und dies großteils noch bis heute ist.
Die Übertragung des Wortes "Kontext" auf nichtsprachliche Gegenstände
verdanken wir schließlich der Soziologie am Ende des 19. Jahrhunderts ; die
Bedeutung hat sich damit zu "Umgebung, Milieu, besondere Umstände" verallgemeinert.
35 Stierle: Begriffsgeschichte 145 mit Beispielen.
36 Stierle: Begriffsgeschichte 146.
37 So Stierle: Begriffsgeschichte 145 und 149.
38 Vgl. etwa Nietzsches "unzeitgemäße Betrachtung" Von Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874).
39 So die These Stierles (Begriffsgeschichte 149 - 149).
40 Stierle: Begriffsgeschichte 149.