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9 Fol­ge­run­gen und Fol­gen

Es würde sich loh­nen, Kon­te­xua­li­sie­rung und Kon­text­wech­sel noch ge­nau­er zu be­trach­ten. Aber ers­tens muss ich zum Schluss kom­men, und zwei­tens wer­den Sie viel­leicht sagen, das habe doch mit einer schul­ge­rech­ten In­ter­pre­ta­ti­on nichts mehr zu tun.

Tat­säch­lich könn­te man die klas­sisch "ob­jek­ti­ve", phi­lo­lo­gi­sche In­ter­pre­ta­ti­on wohl ge­ra­de da­durch de­fi­nie­ren, dass sie keine krea­ti­ven Kon­text­wech­sel vor­nimmt, viel­mehr ver­sucht, den Au­tor­kon­text zu re­kon­stru­ie­ren und den Text mög­lichst aus­schließ­lich in die­sem re­kon­stru­ier­ten Au­tor­kon­text zu in­ter­pre­tie­ren. Dabei spielt je­doch auch der Ko-Text eine zen­tra­le Rolle, und auch den The­makon­text muss die In­ter­pre­ta­ti­on immer wie­der her­an­zie­hen, wenn auch unter dem Ge­sichts­punkt, dass der The­makon­text mög­lichst durch die Bril­le des Au­tors be­trach­tet wird, also fast zum Teil des Au­tor­kon­tex­tes wird. Der Re­zi­pi­en­ten­kon­text wird da­ge­gen mög­lichst kom­plett aus­ge­klam­mert. Unter die­sem Vor­zei­chen wird jeder Text in ers­ter Linie für sich be­trach­tet, erst in zwei­ter Linie vor an­de­ren Texte des­sel­ben Ver­fas­sers sowie vor zeit­lich ver­wand­ten Tex­ten; da­ge­gen sind der­ar­ti­ge cross in­ter­pre­ta­ti­ons, wie sie Bor­ges vor­nimmt und un­se­re neuen Ab­itur­auf­ga­ben zu­min­dest na­he­le­gen, ganz un­denk­bar.

Tat­säch­lich wer­den wir in der wis­sen­schaft­li­chen und weit­hin auch in der schu­li­schen In­ter­pre­ta­ti­ons­ar­beit immer wie­der auf das ob­jek­ti­ve In­ter­pre­ta­ti­ons­ide­al ver­wie­sen, das den Au­tor­kon­text ver­ab­so­lu­tiert. Wir müs­sen uns aber zu­min­dest drei­er­lei klar­ma­chen:

  1. Dass diese so ge­nann­te "ob­jek­ti­ve" Les­art ein Ideal ist und bleibt, wel­ches man an­stre­ben, aber nie voll­kom­men er­rei­chen kann. Sogar wer seine ei­ge­nen Texte spä­ter wie­der­liest, ver­steht sie an­ders als zum Zeit­punkt der Ab­fas­sung.
  2. Dass die­ses Ideal kei­nes­wegs selbst­ver­ständ­lich ist - die Theo­lo­gen des Mit­tel­al­ters hät­ten die Hände über dem Kopf zu­sam­men­ge­schla­gen, da der "ob­jek­ti­ve" Kon­text für sie ge­ra­de nicht der his­to­risch-zu­fäl­li­ge Au­tor­kon­text war, son­dern die christ­li­che Heils­ge­schich­te und -lehre.
  3. Dass ein Text immer v. a. vor dem Le­ser­kon­text an In­ter­es­se ge­winnt: erst indem wir ihn auf uns, unser Leben, un­se­re In­ter­es­sen und Ge­füh­le be­zie­hen, wird er für uns re­le­vant. Ohne eine ge­wis­se "sub­jek­ti­ve" Kon­textua­li­sie­rung kom­men wir also nicht aus; das dürf­te Ihnen ver­traut sein, da Sie si­cher ver­su­chen, die Texte für Ihre Schü­ler "in­ter­es­sant zu ma­chen", das heißt, Be­zü­ge zu deren Le­bens­welt auf­zu­zei­gen.

Zudem fürch­te ich ent­ge­gen dem klas­si­schen phi­lo­lo­gi­schen Ideal, dass eine Tren­nung zwi­schen ob­jek­ti­vem und sub­jek­ti­vem Kon­text, zwi­schen Au­tor­in­ten­ti­on und krea­ti­ver Mit­wir­kung des Le­sers gar nicht exakt mög­lich ist - so­viel haben uns die De­bat­ten von Struk­tu­ra­lis­mus bis De­kon­struk­ti­on ge­lehrt. Aber zu­min­dest un­ge­fähr scheint die Un­ter­schei­dung doch mög­lich, wie etwa die Ar­gu­men­te des Neuen His­to­ris­mus be­stä­ti­gen. Um ver­se­hent­li­che Kon­text­wech­sel zu ver­mei­den, wel­che die Be­deu­tung eines Tex­tes un­ab­sicht­lich und ohne Ge­winn 54 ver­fäl­schen, ist es daher wich­tig, sich die Be­deu­tung des Kon­tex­tes für unser Ver­ständ­nis jedes Tex­tes be­wusst zu ma­chen. Ein Weg, dies zu tun, dürf­te ge­ra­de in der krea­ti­ven Kon­textua­li­sie­rung von Tex­ten be­ste­hen: indem wir ler­nen, mit dem Kon­text be­wusst zu spie­len und krea­ti­ve Kon­text­wech­sel vor­zu­neh­men, ler­nen wir auch, den his­to­ri­schen Kon­text mög­lichst exakt zu tref­fen, wenn wir das wol­len.

Darin könn­te auch ein mög­li­cher be­son­de­rer Nut­zen des neuen Typs von Ab­itur­auf­ga­ben be­ste­hen, da nun der Kon­text nicht wie bei üb­li­chen Text­in­ter­pre­ta­tio­nen nur vor­aus­ge­setzt wird, son­dern im Kon­trast sehr un­ter­schied­li­cher Texte spür­bar her­vor­tritt. So könn­ten die Schü­ler im Ide­al­fall an sol­chen Auf­ga­ben we­nigs­tens drei­er­lei ler­nen:

  • die enor­me Be­deu­tung des Kon­tex­tes für jede In­ter­pre­ta­ti­on;
  • die Mög­lich­keit, Texte durch den Bezug auf ein für sie re­le­van­tes Thema für sich selbst (und viel­leicht auch an­de­re) in­ter­es­sant zu ma­chen;
  • und viel­leicht wird ihnen auch be­wuss­ter, dass In­ter­pre­tie­ren keine lang­wei­li­ge Re­chen­auf­ga­be ist, son­dern ein krea­ti­ver Akt, der durch­aus . . . Spaß ma­chen kann.

Lei­der wer­den diese mög­li­chen Vor­tei­le der Kon­text­auf­ga­ben durch die enge For­mu­lie­rung der 2007/2008 tat­säch­lich ge­stell­ten Auf­ga­ben, noch mehr aber durch die etwas eng­stir­ni­ge Auf­fas­sung in den bei­ge­ge­be­nen Mus­ter­lö­sun­gen kon­ter­ka­riert; die Kon­text­auf­ga­ben büßen damit fast alle As­pek­te wie­der ein, die ei­gent­lich einen Kon­text aus­ma­chen. Viel­leicht kann man, wenn dies schon in den Prü­fun­gen nicht mög­lich ist, im nor­ma­len Un­ter­richt ein­mal aus dem krea­ti­ven Po­ten­ti­al des Kon­tex­tes und der Kon­textua­li­sie­rung schöp­fen, etwa indem man den Schü­lern be­wuss­te cross in­ter­pre­ta­ti­ons in Bor­ges' Sinne auf­gibt. Doch dies sind we­ni­ger Fra­gen für mei­nen Vor­trag als für un­se­re fol­gen­de Dis­kus­si­on.

Ich danke Ihnen für Ihre Auf­merk­sam­keit!

 


54 Diese For­mu­lie­rung mag ein wenig fri­vol klin­gen. Aber wenn es einen Ge­winn gibt, so kann man von einem krea­ti­ven Kon­text­wech­sel aus­ge­hen, und selbst eine an sich ein­fach fal­sche, da den Kon­text un­be­wusst ver­wech­seln­de In­ter­pre­ta­ti­on kann durch­aus noch le­sens­wert sein (ja im Ex­trem­fall le­sens­wer­ter als eine "rich­ti­ge" In­ter­pre­ta­ti­on, die aber keine Neu­ig­kei­ten bringt), wenn sie nur lehr­reich genug ist.