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Die Vereinigten Staaten des Westens


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[...] Wagen wir ein Gedankenexperiment. Stellen wir uns vor, der Atlantische Ozean, der Europa und die Küste der Vereinigten Staaten trennt, würde sich zurückziehen. [...]

In diesem Gedankenexperiment bliebe der Westen nicht länger nur ein Gebilde, bestehend aus den flüchtigen Gasen der Politik. Ermuntert durch die geografische Nähe, würden beide Seiten feststellen, wie nahe sie einander sind - kulturell und ökonomisch. Amerikaner und Europäer haben sich nicht weniger zu sagen als Malteser und Deutsche, Franzosen und Polen, Skandinavier und Griechen. Wenn man ehrlich ist, haben Deutsche und Amerikaner sogar deutlich mehr gemeinsame Interessen als Deutsche und Südeuropäer. Wir lieben Griechenland und Spanien. Aber wir brauchen die USA.

Die amerikanische und die deutsche Volkswirtschaft funktionieren im Gleichklang - oder gar nicht. Es gibt keinen Aufschwung des einen ohne den anderen. Hustet Amerika, tropft Deutschland die Nase.

Die transatlantischen Wirtschaftsbeziehungen sind die effektivsten der Welt. Für etwa 370 Milliarden Dollar exportierten die Europäer im Jahr 2011 in die Neue Welt. Für etwa 270 Milliarden Dollar lieferte die US-Wirtschaft in diesem Zeitraum zurück in die Alte Welt. Beide Seiten unterhalten ein dichtes Netz von Firmen im Einzugsbereich des jeweils anderen: Siemens America beschäftigt heute 56 000 Mitarbeiter, so wie General Electric mit fast 90 000 Mitarbeitern in Europa vertreten ist.

Jede zweite Aktie eines deutschen Dax-Konzerns befindet sich in amerikanischem Besitz. Auch jeder zweite Kühlschrank und mehr als 500 000 verkaufte Autos in den USA stammen aus Deutschland. Unser Apple heißt Mercedes. So wie Ford in Köln produziert, betreiben deutsche Firmen ihre Fabriken in so exotisch anmutenden Orten wie Chattanooga (VW), Mount Vernon (Thyssen-Krupp) und Tuscaloosa (Daimler).

Wenn wir nicht wüssten, dass der Ökonom David Ricardo bereits im Jahre 1823 verstorben ist, könnte man meinen, er dachte an die deutsch-amerikanischen Beziehungen, als er die segensbringende Wirkung der globalen Arbeitsteilung beschrieb.

Diese Arbeitsteilung geht mittlerweile so weit, dass die Politiker beider Seiten voneinander abkupfern. Die Obama-Regierung nahm Anleihen beim europäischen Gesundheitssystem, so wie Kanzler Gerhard Schröder einst die Clinton'schen Arbeitsmarktreformen "Welfare to work" ins Deutsche übersetzte. Daraus wurde die Agenda 2010.

Auch ihre Fehler begehen beide Seiten neuerdings gemeinsam. Zur Rettung des Weltfinanzsystems setzen die Regierungen auf jenes Mittel, das uns erst in die missliche Lage gebracht hat: den Kredit. Das Gift von gestern wird nun als Medizin verkauft. Aber immerhin: So wurde auch der Irrtum transatlantisch.

Nun geht es um den nächsten großen Schritt auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten des Westens: die Bildung einer transatlantischen Freihandelszone.

Tausende von regulatorischen Unterschieden zwischen den Wirtschaftsräumen würden verschwinden. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Autos an der Grenze des jeweils anderen umgerüstet werden. Auf Schuhe, Lebensmittel und Computer werden Schutzzölle erhoben, als handelten zwei feindliche Lager miteinander. Die bisherige Handhabung der Handelsbeziehungen, sagte unlängst die scheidende US-Außenministern Hillary Clinton, vernichte beim Grenzübertritt jährlich Dutzende von Milliarden.

Das geistige Eigentum unserer Erfinder und Patentanmelder könnte deutlich besser geschützt werden, wenn die Zollbeamten an den Außengrenzen dieses Binnenmarktes ein einheitliches Informationssystem benutzen würden. Heute steuern die Frachter mit asiatischen Raubkopien, sobald in Hamburg die Löschung verweigert wird, einen amerikanischen Hafen an.

In der Steuerpolitik wäre Großes zu leisten. Es macht keinen Sinn, dass der eine ein Schlupfloch schließt, damit es der andere aufreißt.

International würde die Durchsetzung westlicher Standards auf den Arbeits- und Warenmärkten erleichtert. Denn Arbeitnehmer sind für den Westen Bürger und nicht Objekte der Ausbeutung; Kinder sind Kinder und keine Lohnsklaven; die Natur wird geschützt, nicht geschändet. Frauen werden gefördert, nicht erniedrigt. Die Meinung des Andersdenkenden ist uns willkommen und nicht Anlass, die Polizei ausrücken zu lassen. Wohlstand braucht Werte, das wäre die kraftvolle Botschaft dieser Vereinigten Staaten des Westens. [...]

Zwar beten die Amerikaner zu Gott und die Europäer zum Sozialstaat. Doch das gemeinsame Fundament ist ein demokratischer Kapitalismus, wie er sich im Gefolge der Großen Depression des vorigen Jahrhunderts herausgebildet hat. Seit der Einführung der amerikanischen Sozialgesetzgebung im Jahr 1935 und Ludwig Erhards "Sozialer Marktwirtschaft" existiert auf beiden Seiten des Atlantiks ein Wohlfahrtsstaat, der diesen Namen verdient.

Das wichtigste Argument aber ist nicht die gemeinsame Herkunft, sondern die gemeinsame Zukunft. Entweder Amerikaner und Europäer nehmen die neuen Herausforderungen wie den Klimawandel, den internationalen Terrorismus und die Zähmung der Finanzindustrie gemeinsam an, oder sie werden gemeinsam scheitern.

Weder ist der Euro eine rein europäische Währung noch der Dollar eine rein amerikanische. Beide Währungsräume wären schlecht beraten, wenn sie sich auf Kosten des jeweils anderen zu sanieren versuchten. Die rostige Münze nationaler Souveränität verliert im Zeitalter der Globalisierung ständig an Wert.

Selbst gemeinsam würden die Vereinigten Staaten des Westens keineswegs die Welt dominieren. Aber sie würden ihrem Bedeutungsverlust entgegenwirken. Amerikaner und Europäer machen rund zwölf Prozent der heutigen Weltbevölkerung aus, 45 Prozent des heutigen Weltsozialprodukts und 43 Prozent aller Patentanmeldungen findet zwischen Seattle und Mailand statt. Die Vereinigten Staaten des Westens würden mehr als 60 Prozent aller weltweit eingesetzten Softwareprogramme herstellen. In ihren Grenzen wären 90 Prozent der Flugzeugindustrie beheimatet und 70 Prozent aller Unternehmen des Banksektors. Aber nur noch 250 Millionen Tonnen Stahl von den insgesamt auf der Welt produzierten 1 500 Millionen Tonnen stammen aus westlichen Breiten.

In Asien schießen derzeit ökonomische Zwerge zu Riesen auf. Noch streben die Aufsteigerstaaten keine politische und militärische Machtposition an. Das ist klug für den Moment, aber das wird so nicht bleiben. Die chinesischen KP-Kader sind aus derselben Rippe geschnitten wie wir. Chinas Entwicklung zur Großmacht wird jedes vergleichbare Phänomen der letzten 500 Jahre in den Schatten stellen.

Die Vereinigten Staaten des Westens wären keine Festung. Ihr Fundament würde auf den Werten der Demokratie und der Marktwirtschaft gründen - nicht auf Sprache, Religion, Herkunft oder nationaler Souveränität. Dieser Vielvölker- und Vielreligionenstaat, der sich als Sozial- und Wirtschaftsraum definiert, der ein Reich des organisierten Friedens wäre, um die Worte von Jean Monet zu benutzen, würde sich leiten lassen vom Gedanken der Integration, nicht der Ausgrenzung.

Wer ausreichend politische Fantasie besitzt, kann die Vereinigten Staaten des Westens am Horizont bereits erkennen. Aber selbst wenn wir dieses Ziel zu unserer Lebzeit nicht mehr erreichen sollten, lohnt es doch, sich auf den Weg zu machen. Oder um es in den Worten von Marcel Proust zu sagen: "Der wirkliche Gewinn einer Entdeckungsreise ist nicht das neue Land, sondern der neue Blickwinkel."

Mit freundlicher Genehmigung des Verlags. © Gabor Steingart:
http://www.handelsblatt.com/politik/international/transatlantische-freihandelszone-die-vereinigten-staaten-des-westens/7719596.html [01.02.2013]

 

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