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Ar­beits­blatt 2

Tho­mas Mann: Mario und der Zau­be­rer

M1

Auch Ci­pol­la ist ein Ver­bre­cher, ein hoch­mü­ti­ger dazu. Seine In­tel­lek­tua­li­tät stei­gert sein Ver­bre­cher­tum nur noch, und seine psy­cho­lo­gi­schen Kennt­nis­se hel­fen ihm dabei. Dazu hat er einen Spür­sinn, der sich in die Mas­sen und seine Opfer hin­ein­fragt. »Menschlie­be« aber geht ihm ab. Er kann den Wil­len des Men­schen nur ver­ge­wal­ti­gen und daran sei­nen Spaß haben. So ist er denn ein Ego­zen­tri­ker hohen Gra­des, trotz aller sei­ner Ver­bin­dun­gen zum »Pu­bli­kum«. Über­haupt ist sein Wesen von pa­ra­do­xer Wi­der­sprüch­lich­keit. Ci­pol­la ist eben­so Land­fah­rer wie Bo­he­mi­en, eben­so bin­dungs­los wie an­ge­wie­sen auf die Ori­en­tie­rung nach außen; ein Tat­mensch, bei aller Kon­tem­pla­ti­vi­tät sei­ner Exis­tenz. Seine Ner­vo­si­tät, ja ner­vö­se La­bi­li­tät wird aus­drück­lich her­vor­ge­ho­ben, eben­so aber sein Wille und seine stets un­ge­hemm­te Mo­bi­li­tät – kommt er doch schon auf die Bühne ge­rannt, um an­zu­deu­ten, wie be­weg­lich er trotz sei­nes Al­ters im wirk­li­chen und gleich­zei­tig im über­tra­ge­nen Sinne ist. Eines be­herrscht er vor­züg­lich, ohne es je stu­diert zu haben: Psy­cho­lo­gie. So kann er sich in die Pro­ble­me hin­ein­fra­gen und sie aus den Zu­schau­ern her­aus­fra­gen. Ein Halb­welt­künst­ler, der in sei­ner schwin­del­haf­ten Welt völ­lig zu Hause ist – aber Lu­zi­fe­ri­sches hat er auch an sich, bei aller Clown­haf­tig­keit. Me­phis­to be­tont Faust ge­gen­über, wie schwer es ihm falle, alle des­sen son­der­ba­re Wün­sche zu er­fül­len – und dass es ihm schwer­fällt, alles zu er­fül­len, was das Pu­bli­kum von ihm er­war­tet, sagt auch Ci­pol­la wie­der­holt. Er ist eben­so Ha­sar­deur wie Op­por­tu­nist, ein Lie­bes­zau­be­rer und ein nur auf Wir­kung be­dach­ter, kalt­her­zi­ger Schau­spie­ler. Er amü­siert und er­nied­rigt sein Pu­bli­kum in einem. Er ist ein Seil­tän­zer auf der Gunst des Pu­bli­kums, er weiß es gleich­zei­tig zu de­mü­ti­gen wie auch an­zu­zie­hen. [...] »Mun­dus vult de­ci­pi« [„Die Welt will be­tro­gen wer­den“ Anm. Stras­ser]: für nie­mand an­ders gilt das deut­li­cher als für Ci­pol­la und seine Künst­ler-Soi­ree. Er ma­ni­pu­liert die Welt, wobei er weiß, dass die Welt auch ihn ma­ni­pu­liert. Er ist grau­sam und ver­ständ­nis­voll, will durch die Il­lu­si­on das Leben ver­bes­sern und zer­stört es gleich­zei­tig. Und so kon­zen­triert sich denn in ihm noch ein­mal die Künst­ler­psy­cho­lo­gie im Über­maß und in all ihrer Frag­wür­dig­keit. Eben darin ist Mario und der Zau­be­rer of­fen­bar auch so etwas wie eine Selbst­ab­rech­nung – ein Teil­stück jener gro­ßen, le­bens­lan­gen Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Künst­ler, dem Typus des frag­wür­di­gen und eben­so hoch­er­ho­be­nen Aus­nah­me­men­schen, die Tho­mas Mann immer wie­der ge­führt hat, als Selbst­be­fra­gung und Selbst­kri­tik in einem.
Ko­op­mann, Hel­mut: Tho­mas Mann, Mario und der Zau­be­rer. In: Han­sen, Volk­mar (Hrsg.): In­ter­pre­ta­tio­nen. Tho­mas Mann. Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen. Stutt­gart 1993, S. 170ff

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Den­noch würde man die Ge­schich­te falsch deu­ten, sähe man hier eine späte, in die Le­bens­wirk­lich­keit der aus­ge­hen­den zwan­zi­ger Jahre hin­ein ver­län­ger­te Ar­tis­ten­ge­schich­te – dazu han­delt Mario und der Zau­be­rer zu sehr vom Miss­brauch einer im wei­tes­ten Sinne po­li­ti­schen Macht. Aber man würde ihr eben­so wenig ge­recht, sähe man hier nur die po­li­ti­sche Stim­mung und prä­fa­schis­ti­sche At­mo­sphä­re do­ku­men­tiert – dazu ist die Er­zäh­lung zu sehr Künst­ler­no­vel­le. Das ei­gent­li­che Zen­trum der Ge­schich­te, in dem sich Künst­ler­the­ma­tik und po­li­ti­sche Ten­denz tref­fen, liegt wohl auf einer drit­ten Ebene, die al­lein ge­eig­net ist, die dop­pel­te Per­spek­ti­ve von Künst­ler­tra­gö­die und po­li­ti­scher Tra­gö­die mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Das etwas ver­deck­te, aber den­noch zen­tra­le Thema der No­vel­le ist das Ver­hält­nis von »Masse« und »Füh­rer«. In diese Pro­ble­ma­tik und Be­zie­hung ist das alte Künst­ler­the­ma über­ge­lei­tet; damit hat Tho­mas Mann aber auch er­zäh­le­risch Stel­lung be­zo­gen zu einem Thema, das gegen Ende der zwan­zi­ger Jahre zum po­li­ti­schen Thema der Zeit ge­wor­den war.
Ko­op­mann, Hel­mut: Tho­mas Mann, Mario und der Zau­be­rer. In: Han­sen, Volk­mar (Hrsg.): In­ter­pre­ta­tio­nen. Tho­mas Mann. Ro­ma­ne und Er­zäh­lun­gen. Stutt­gart 1993, S. 175

Ar­beits­auf­trag:

  1. Un­ter­su­che an­hand von M1, in­wie­fern du Ko­op­manns Ein­schät­zung der Figur Ci­pol­las als Künst­ler bzw. als Ver­bre­cher zu­stim­men kannst. Be­le­ge dein Ur­teil mit kon­kre­ten Text­be­le­gen aus „Mario und der Zau­be­rer“.
  2. Dis­ku­tie­re, in­wie­weit der These, „Mario und der Zau­be­rer“ sei auch eine „Selbst­ab­rech­nung“ Manns – mit Blick auf die ei­ge­ne Exis­tenz als Künst­ler – zu­zu­stim­men ist.  (vgl. M1 und M2)

 

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