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M2: Die Entwicklung der linguistischen Disziplin der Pragmatik (Platon, Bühler, Austin, Searle)24

1. Das traditionelle Sprachmodell

Seit etwa 2400 Jahren, von Platon bis Mitte des 20. Jahrhunderts, wird in sprachphilosophischen Schriften im Großen und Ganzen immer wieder dasselbe Modell für das Funktionieren von Sprache vertreten. Dieses traditionelle Modell von Sprache lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

  1. Sprache besteht grundsätzlich aus Sätzen, die wahr oder falsch sind. Für diese Sätze gibt es viele Bezeichnungen, z. B. Behauptungen, Aussagen, Thesen oder Urteile.

    Wichtig sind solche Sätze in theoretischen Schriften, z. B. in den Wissenschaften, oder in Berichten über Ereignisse in der Welt, denn Sätze in Theorien oder Berichten sollten wahr sein. Solche Sätze sind wichtig, denn wer wahre Sätze kennt, hat Wissen.

    Entsprechend wurden andere als Behauptungssätze umgeformt in Behauptungssätze: Imperative wie „Schweig!“ beispielsweise wurden verändert in „Ich möchte, dass du schweigst“ oder Fragen wie „Schweigt Sokrates?“ in „Ich möchte wissen, ob Sokrates schweigt.“

  2. Sätze bestehen grundsätzlich aus Wörtern, die sich auf etwas in der Welt beziehen.

    Im Satz „Ben begrüßt Anne“ beispielsweise bezieht sich das Wort „Ben“ auf einen bestimmten Mann, „Anne“ auf eine bestimmte Frau, und „begrüßt“ auf den Vorgang des Begrüßens (beobachtbar z. B. als freundliches Händeschütteln). Dieser Satz ist wahr, wenn der Kontext seiner Äußerung bekannt ist, wenn es in diesem Kontext einen Mann namens „Ben“ und eine Frau namens „Anne“ gibt und wenn es zum Zeitpunkt der Äußerung des Satzes (oder wenn er gedacht wird) tatsächlich der Fall ist, dass Ben Anne begrüßt.

  3. Sprecher oder Hörer verstehen den Satz „Ben begrüßt Anne“, wenn ihr Verstand (oder ihr Geist) in der Lage ist, das Wort „Ben“ auf einen ganz bestimmten Ben, das Wort „Anne“ auf eine ganz bestimmte Anne und „begrüßt“ auf den Vorgang des Begrüßens zu beziehen.

    Wie genau unser Verstand − oder unser Geist oder unser Gehirn − das macht, wussten die früheren Philosophen nicht − und wie das genau geht, das wissen auch wir heute noch nicht; aber dies wird nicht als ein sprachphilosophisches Problem betrachtet, sondern als eine Aufgabe beispielsweise für die Gehirnforschung.

Was genau im Kopf vor sich geht, darüber gab und gibt es nach wie vor viele Mutmaßungen und unterschiedliche Theorien. Auch ist klar, dass nicht jedes einzelne Wort sich auf etwas bezieht: Zunächst können Namen schon aus mehreren Wörtern bestehen: „Fürst Wolfgang von Grünwald“ beispielsweise besteht aus vier Wörtern und bezieht sich dennoch nur auf eine Person. Zudem gibt es viele Wörter wie „die“, „und“ oder „während“, die sich auf keinen Gegenstand beziehen; dafür gab es weitere Erklärungsversuche, die hier nicht weiter von Interesse sein sollen.

Es ist die These der Sprachpragmatik, einer unabhängig voneinander von John L. Austin (1911-1960) und Ludwig Wittgenstein (1889-1951) Mitte des 20. Jahrhunderts angeregten sprachphilosophischen Disziplin, dass dieses auf den ersten Blick so einleuchtende Modell unzulänglich ist.25

Übungsaufgabe zum traditionellen Sprachmodell

Analysiere anhand folgender Sätze, welche Ausdrücke (die aus mehr als nur einem Wort bestehen können) sich auf was in der Welt beziehen! (Es wird dabei angenommen, dass alle Sätze wahr sind.)

1. Madonna singt.

2. Hans singt ein Lied.

3. Otto erzählt einen Witz.

4. Der Lateinlehrer liest Ciceros De re publica.

5. Ulm liegt zwischen Stuttgart und München. [Hinweis: „und“ braucht nicht analysiert zu werden]

6. Der Vereinsvorsitzende eröffnet die Mitgliederversammlung.

 

Weiteres Material im Download

Dies ist nur ein Teil von M2. Weitere Inhalte zum Thema: "Die Entwicklung der linguistischen Disziplin der Pragmatik (Platon, Bühler, Austin, Searle)" finden Sie im Download ab der Seite 17 [pdf][2 MB].

 


24 Als Grundlage für diese Unterrichtssequenz diente die von Herrn Prof. Kober für die Arbeitstagung der Konzeptionsgruppen „Vertiefungskurs Sprache“ und „Akademische Lehr- und Lernformen am Gymnasium“, erstellte Handreichung „Informationen und Unterrichtsmaterialien: Sprachpragmatik und Dreistrahligkeit des Zeichens“ (Bad Wildbad, 20.09.2018). M2 stellt eine an einigen Stellen ergänzte und erweiterte Fassung dieser Handreichung dar.

25 Vgl. Kober/Michel, John Searle, S. 107-109. Text und Aufgaben nach: Kober, „Sprachpragmatik und Dreistrahligkeit des Zeichens“.

 

Handreichung Pragmatik: Herunterladen [docx][2 MB]

Handreichung Pragmatik: Herunterladen [pdf][2 MB]

 

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