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Ma­te­ri­al 11-12

Die Macht der Po­li­zei

Aus einem Be­richt des ame­ri­ka­ni­schen Russ­land­rei­sen­den Ge­or­ge Kenn­an aus dem Jahre 1889

Der Grund­satz, nach wel­chem die rus­si­sche Re­gie­rung vor­geht, ist kurz fol­gen­der: Der Bür­ger ist nicht bloß un­fä­hig an der Lei­tung der An­ge­le­gen­hei­ten sei­nes Va­ter­lan­des, sei­ner Pro­vinz oder sei­nes Be­zirks An­teil zu neh­men, son­dern er ist auch nicht be­fugt die Ge­schäf­te sei­nes eig­nen Haus­halts zu lei­ten, und von der Zeit an, wo er seine Wiege ver­lässt und den Kampf mit dem Leben auf­nimmt, bis zu der Zeit, wo sein müdes grau­es Haupt end­lich unter den Rasen ge­bet­tet wird, muss er ge­lei­tet, ge­lenkt, be­lehrt, ge­zü­gelt, un­ter­drückt, ge­maß­re­gelt, ein­ge­sperrt, aus­ge­sperrt, ge­presst und nie­der­ge­hal­ten und im All­ge­mei­nen dazu ver­an­lasst wer­den, das zu tun, was nach der Mei­nung ir­gend eines an­dern sein Wohl vor­stellt. Das na­tür­li­che Er­geb­nis die­ses vä­ter­li­chen Re­gie­rungs­grund­sat­zes ist die Ver­ei­ni­gung der ge­sam­ten aus­üben­den Ge­walt in den Hän­den ei­ni­ger we­ni­ger hoher Be­am­ten und eine un­ge­heu­re Aus­deh­nung der Po­li­zei­macht. [...] Wenn man ein Russe ist und eine Zei­tung grün­den will, muss man die Er­laub­nis des Mi­nis­ters des ln­nern ein­ho­len. Wenn man eine Sonn­tags­schu­le zu er­öff­nen wünscht oder ir­gend­ei­ne andre Schu­le, sei es in einem ver­kom­me­nen Win­kel von Sankt Pe­ters­burg oder in einem Dorfe von Ein­ge­bor­nen in Kamt­schat­ka, muss man den Un­ter­richts­mi­nis­ter um Er­laub­nis fra­gen. Wenn man ein Kon­zert zu geben oder eine Ge­mäl­de­aus­stel­lung zum Vor­teil eines Wai­sen­in­sti­tuts zu ver­an­stal­ten be­ab­sich­tigt, ist es nötig, die Er­laub­nis des nächs­ten Ver­tre­ters des Mi­nis­ters des ln­nern ein­zu­ho­len, fer­ner das Pro­gramm der Vor­stel­lung dem Zen­sor zur Be­gut­ach­tung und Ge­neh­mi­gung vor­zu­le­gen und end­lich das Geld, wel­ches bei der Ver­an­stal­tung ein­geht, der Po­li­zei ein­zu­hän­di­gen, damit es un­ter­schla­gen oder an das Wai­sen­in­sti­tut ab­ge­führt werde, je nach Be­lie­ben. [...] Die Po­li­zei, mit dem Mi­nis­ter des ln­nern an der Spit­ze, über­wacht mit­tels Päs­sen die Be­we­gun­gen aller Ein­woh­ner des Rei­ches, sie hält Tau­sen­de von ,,Ver­däch­ti­gen" unter be­stän­di­ger Auf­sicht; [...] sie stellt den Pen­sio­nä­ren und allen Per­so­nen, die es nötig haben, lden­ti­täts­kar­ten aus; sie führt die Ober­auf­sicht bei Re­pa­ra­tu­ren von Stra­ßen und Brü­cken; sie übt eine stän­di­ge Kon­trol­le über alle thea­tra­li­schen Dar­stel­lun­gen, Kon­zer­te, Bil­der, Thea­ter­zet­tel, An­schlag­zet­tel und Re­kla­men aus; sie sam­melt sta­tis­ti­sche Daten, ver­an­lasst sa­ni­tä­re Maß­re­geln, nimmt Durch­su­chun­gen und Kon­fis­ka­tio­nen in Pri­vat­häu­sern vor, liest die Brie­fe der "Ver­däch­ti­gen'', nimmt sich der Lei­chen der tot Auf­ge­fun­de­nen an, "ver­warnt" die Mit­glie­der der Kir­che, wel­che es zu lange ver­ab­säu­men an der hei­li­gen Kom­mu­ni­on teil­zu­neh­men und er­zwingt den Ge­hor­sam gegen Tau­sen­de von man­nig­fal­ti­gen Er­las­sen und Vor­schrif­ten [...]. Die Ge­set­ze über die Po­li­zei fül­len mehr als 5000 Pa­ra­gra­phen des "Swod Zako­n­of" oder der rus­si­schen Ge­setz­samm­lung und es ist kaum eine Über­trei­bung zu be­haup­ten, dass in den klei­nen Bau­ern­dör­fern, fern von den Mit­tel­punk­ten der Bil­dung und Auf­klä­rung, die Po­li­zei­be­am­ten die alles be­drü­cken­den und all­mäch­ti­gen Lei­ter aller mensch­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten sind - eine Art all­mäch­ti­gen bü­ro­kra­ti­schen Er­sat­zes für die gött­li­che Vor­se­hung.

G. Kenn­an, Si­bi­ri­en und das Ver­ban­nungs­sys­tem, Leip­zig/Wien o.J. [1891], S. 371 ff.

Die Leib­ei­gen­schaft

Eine Haupt­schwie­rig­keit be­stand darin, dass na­he­zu die Hälf­te aller Rus­sen bloße An­häng­sel des im­pe­ria­len Rech­te­re­gimes waren, an dem Nicht­rus­sen gemäß den für sie gel­ten­den un­ter­schied­li­chen Be­stim­mun­gen teil­hat­ten. Von der Be­völ­ke­rung des lm­pe­ri­ums waren vier­zig Pro­zent Leib­ei­ge­ne, die auf den Län­de­rei­en von Ad­li­gen ar­bei­te­ten oder ihnen Ab­ga­ben zahl­ten oder bei­des. Das Recht, Leib­ei­ge­ne zu be­sit­zen, wurde nur dem Adel ge­währt, der Mitte des 19. Jahr­hun­derts etwa 1,5 Pro­zent der Be­völ­ke­rung aus­mach­te. Eine klei­ne Grup­pe von Ma­gna­ten besaß mehr als vier­zig Pro­zent aller Leib­ei­ge­nen, aber der Be­sitz von Leib­ei­ge­nen ge­hör­te sogar auf klei­nen Gü­tern zum ad­li­gen Le­bens­stil. [… Dir Leib­ei­gen­schaft] ent­wi­ckel­te sich […] als le­ga­les Mit­tel, um Bau­ern davon ab­zu­hal­ten, ihre Her­ren zu ver­las­sen und in Russ­lands ex­pan­die­ren­de Räume zu flüch­ten. Als Ad­li­ge in den seit kur­zem „ge­öff­ne­ten“ Step­pen Güter er­war­ben, konn­ten sie ihre Leib­ei­ge­nen mit­neh­men oder ver­su­chen, sich in der Re­gi­on neue an­zu­schaf­fen. In bei­den Fäl­len wurde die Be­sied­lung nicht von Heim­stät­ten­fa­mi­li­en durch­ge­führt, die aus frei­em Wil­len in neue Ge­bie­te zogen, wie in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten. Die Kon­trol­le über die Mo­bi­li­tät der Leib­ei­ge­nen war nur eine von vie­len Be­fug­nis­sen, die von Ad­li­gen aus­ge­übt wur­den. Ad­li­ge dien­ten dem Staat als Ver­wal­tungs­be­am­te: Sie er­klär­ten Ehe­schlie­ßun­gen von Leib­ei­ge­nen für rechts­gül­tig, re­gel­ten ihre Be­schäf­ti­gung auf oder au­ßer­halb von Gü­tern und ent­schie­den min­der­schwe­re Rechts­an­ge­le­gen­hei­ten. Grund­her­ren trie­ben Steu­ern von ihren Leib­ei­ge­nen ein, ver­pfän­de­ten, hin­ter­lie­ßen und kauf­ten und ver­kauf­ten sie. Im Laufe der Zeit ver­lo­ren Leib­ei­ge­ne das Recht, das ein­fa­che Un­ter­ta­nen im Mos­kau­er Staat be­sa­ßen: sich beim Sou­ve­rän über ihre Be­hand­lung zu be­schwe­ren und um Ge­rech­tig­keit zu bit­ten. Die recht­li­chen Bin­dun­gen der Bau­ern an den Staat waren in dem Maße ge­schwächt wor­den, wie Ad­li­ge ihre ei­ge­nen Rech­te stär­ken konn­ten. Leib­ei­ge­ne schwo­ren dem Kai­ser bei sei­ner Thron­be­stei­gung nicht ein­mal Treue. […] Ni­ko­laus l. (1825-1855) ver­tei­dig­te die Rech­te von Ad­li­gen über Leib­ei­ge­ne. Nur zwei Jahre nach sei­nem Tod grün­de­te sein Sohn Alex­an­der, der den ka­ta­stro­pha­len Krim­krieg be­en­det hatte, ein „Ge­hei­mes Ko­mi­tee zum Stu­di­um der Bau­ern­fra­ge“, des­sen Ziel es war, das „Übel“ der Leib­ei­gen­schaft zu „kor­ri­gie­ren“. Vier Jahre spä­ter, nach einer Serie von Kom­mis­sio­nen, Un­ter­su­chun­gen, Kon­sul­ta­tio­nen und kai­ser­li­chen ln­ter­ven­tio­nen, ver­lieh der Zar wäh­rend der Fas­ten­zeit, als man hoff­te, dass so­wohl Ad­li­ge als auch Bau­ern kei­nen Al­ko­hol trin­ken und die ra­di­ka­le Ge­setz­ge­bung ruhig ak­zep­tie­ren wür­den, der Auf­he­bung der Leib­ei­gen­schaft per Un­ter­schrift Ge­set­zes­kraft.

Bur­bank, Jane/Co­oper, Fre­de­rick: Im­pe­ri­en der Welt­ge­schich­te, Frank­furt am Main/New York (Cam­pus) 2012, S. 356f

 

Stun­den­ent­wurf: Struk­tur­merk­ma­le des Za­ren­reichs Russ­land als Im­pe­ri­um: Her­un­ter­la­den [docx][3 MB]

Stun­den­ent­wurf: Struk­tur­merk­ma­le des Za­ren­reichs Russ­land als Im­pe­ri­um: Her­un­ter­la­den [pdf][355 kB]

 

Wei­ter zu Ma­te­ri­al 13-15