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AB 4-3: Die Zukunft der Erinnerung

Sag keinem, wer du bist: Mustafa Bakiriciouglu alias Bersam Bakirician

Vgl.: http://www.zeit.de/2015/16/voelkermord-armenier-genozid-familie-geschichte

Laura Cwiertnia, Sag keinem, wer du bist in: DIE ZEIT Nr. 16/2015, 16. April 2015


Die doppelte Rolle Europas

Der türkisch-armenische Intellektuelle Hrant Dink (1952–2007) hat wie kein anderer vor ihm die Debatte über die Auseinandersetzung mit der Geschichte und mit der Vielfalt unterschiedlicher ethnischer und religiöser Bevölkerungsgruppen in der Türkei öffentlich geprägt. Um ein Forum für diese Auseinandersetzung zu schaffen, gründete er 1996 die Wochenzeitung „Agos“, die ihre Beiträge in zwei Sprachen, auf Armenisch und Türkisch, publiziert. Mit seinem Engagement löste Hrant Dink scharfe Proteste des nationalistischen Lagers in der Türkei aus. Er erhielt Hassbriefe und Morddrohungen, er wurde vor Gericht gezerrt und schließlich wegen „Beleidigung des Türkentums“ rechtskräftig verurteilt. Am 19. Januar 2007 wurde Hrant Dink von einem aufgehetzten nationalistischen Jugendlichen auf offener Straße vor dem Redaktionsgebäude seiner Zeitung erschossen. „Agos“ erscheint auch heute, die Hrant-Dink-Stiftung setzt sich heute in der Türkei für die historische Aufarbeitung ein, die Schriften des Journalisten werden auch heute gelesen. Mit kritischen Anmerkungen setzte er sich für einen Prozess der Aufarbeitung und Aussöhnung ein:

All die Beschlüsse der verschiedenen europäischen Parlamente zur Anerkennung des Völkermordes in den letzten Jahren haben leider nicht zur Erleichterung der Demokratisierung der Türkei beigetragen, sondern haben den türkischen Nationalismus angeheizt und die Demokratisierung der Türkei erschwert. Europa wiederholt damit den Fehler, den es vor einem Jahrhundert begangen hat, indem es erneut in oktroyierender Weise und als Befehlsgeber auftritt, anstatt durch eine Politik der Förderung und der Überzeugung zu einer Besserung des türkisch-armenischen Verhältnisses beizutragen. Dabei sollte das Interesse Europas an der Region vom Lernen aus der Vergangenheit, von Verantwortung und von der Bereitschaft geprägt sein, einen ganz anderen Preis zu zahlen.

Die Begriffe »Verantwortung« und »Preis« gehören sehr dick unterstrichen. Denn in die Katastrophe, die sich auf dem Boden des Osmanischen Reiches ereignet hat, waren nicht nur die Türken, die Kurden und die Armenier verstrickt, sondern auch europäische Staaten, Russland und die USA. Wenn es heißt, dass »diese Katastrophe nicht wieder gutgemacht und die Ungerechtigkeit nicht beseitigt ist«, was ja vollkommen richtig ist, dann kann es nicht angehen, dass es mit dem Leid der Armenier einfach sein Bewenden hat. Die Verantwortung darf nicht nur einer Seite aufgebürdet werden, so dass sich die anderen aus der Verantwortung stehlen und um die Zahlung ihres Anteils drücken können. Gerade die Europäer können nicht glauben, sie würden ihrer Verantwortung gerecht, wenn ihre Parlamente 90 Jahre später ein paar Zeilen zum Völkermord verabschieden.

Der Preis, welchen Europa zahlen muss, ist klar. Es muss nach Kräften darauf hinwirken, dass die Türkei und Armenien Beziehungen aufnehmen. Schöne Worte und Wünsche reichen dafür nicht aus. Europa muss vielmehr konkrete Projekte entwickeln und verwirklichen. Eines dieser Projekte steht bereits im Raum: ein Sondernachbarschaftsabkommen der Europäischen Union mit den drei Republiken des Kaukasus: Aserbaidschan, Armenien und Georgien. Deren Status muss angehoben werden. Den drei Republiken muss signalisiert werden, dass für sie, sofern sie ihre Region stabilisiert haben, eine Perspektive auf Vollmitgliedschaft besteht und dass sie sich gewissermaßen über die Türkei an Europa anschließen können.

Europa sollte die Etablierung von Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei durch konkrete Projekte und wirtschaftliche Hilfe unterstützen. Projekte zur Entwicklung der Land- und Energiewirtschaft, der Industrie und des Tourismus in den Grenzregionen schaffen gemeinsame Interessen von Türken und Armeniern und tragen zur Normalisierung ihrer Beziehungen bei. Auf diese Weise würden Fehler der Vergangenheit nicht durch billige Erklärungen von Parlamenten gutgemacht, sondern dadurch, dass Verantwortung übernommen und ein Preis bezahlt wird. Dann würde sich zeigen, wie aufrichtig Europa heute ist.

Der Einfluss des damals in sich zerstrittenen Europas in der Region hat dazu geführt, dass sich ihre Völker gegenseitig zerfleischten und auch dazu, dass die Armenier, welche seit vier Jahrtausenden auf diesem Boden lebten, mit Stumpf und Stiel vernichtet worden sind. Mit anderen Worten: Die Interventionen Europas haben damals die Bande zwischen den Völkern der Region zerrissen. Europa hat deshalb heute die Aufgabe, die Bindungen zwischen den Völkern neu zu knüpfen. Bevor es nicht von jemandem, der Bindungen zerstört, zu jemandem wird, der sie errichtet, ist die Schuld nicht beglichen.

aus: Auszug aus: Hrant Dink, Zum 90. Jahrestag: Die politische Rolle Europas, 22. April 2005, in: Ders. Von der Saat der Worte (S. 131-132), hrsg. und übersetzt von Günter Seufert; © 2015 Verlag Hans Schiler.

Erwachendes Geschichtsbewusstsein in der Türkei

Der Völkermord an den Armeniern war lange ein Tabu der Geschichte in der Türkei. Mit diesem Tabu ist auch der Journalist Hasan Cemal aufgewachsen. Seine persönliche Auseinandersetzung mit dem Genozid, sein Fragen und Verstehen, hat der Journalist in dem Buch "1915. Der Völkermord an den Armeniern" zusammengefasst.

Vgl.: http://www.deutschlandfunk.de/mutiges-buch.1310.de.html?dram:article_id=228212

Gunnar Köhne, Mutiges Buch; Rezension zu Hasan Cemal: „1915. Ermeni Soykirimi (Der Völkermord an den Armeniern)“, Istanbul 2012, nach: http://www.deutschlandfunk.de/mutiges-buch.1310.de.html?dram:article_id=228212


Aufarbeitung als Chance

Auf diplomatischem Parkett ist man inzwischen klug genug, sich nicht nur ständig die reflexartig abrufbaren Maximalforderungen entgegenzuhalten. Denn wenn die Türken den Armeniern immer nur das Zugeständnis »Es-war-kein-Völkermord« und die Armenier ihrerseits den Türken immer nur das Eingeständnis »Es-war-aber-ein-Völkermord« abtrotzen wollen, dann wird jedweder Annäherungsversuch scheitern. Mit dem verbalen Holzhammer lässt sich kein Fundament für eine tragfähige Beziehung zimmern. Das geht nur in Feinarbeit. Von der Bereitschaft dazu zeugte Abdullah Güls1 Antwort bei der Pressekonferenz mit Obama auf die Genozid-Frage. Er verwies auf das Leid der vom Balkan und aus dem Kaukasus vertriebenen Muslime jener Zeit. Er verwies auf die chaotischen Umstände der Kriegsjahre. Und er verwies auf die Schweigepolitik der jungen Türkischen Republik, die um all dieses Leid kein großes Aufhebens gemacht habe, um nicht noch mehr Hass zu säen. Nun aber sei das Thema wieder auf die politische Agenda gelangt. Dabei sei es eines für Historiker. Deshalb schlug Abdullah Gül bei der Pressekonferenz eine international besetzte Expertenkommission zur Bearbeitung von 1915 vor und erklärte, bereit zu sein, der Realität, den Fakten ins Gesicht zu sehen.

Einzuwenden, die Massenvertreibung und -tötung der Armenier im Osmanischen Reich sei doch längst weltweit erforscht worden; einzuwenden, dass die Historiker heute mehrheitlich von Völkermord sprächen; einzuwenden zudem, dass ihre Untersuchungsergebnisse ausreichten, um den Begriff auch für 1915 zu gebrauchen — das alles einzuwenden ändert nichts an einer entscheidenden Realität: Geschichte kann den Menschen nicht nur verkündet werden. Sie muss von ihnen auch verstanden und verinnerlicht werden können, damit Schuld, Leid und Verantwortung einen angemessenen Platz im kollektiven Verständnis finden. Nicht nur die Türkei tut sich damit schwer — gerade in Deutschland kennt man das.

Es geht darum, die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit als Chance zu begreifen — als Möglichkeit, einen Lernprozess zu durchlaufen. Eine Türkei, die sich nicht unter dem Schatten ihrer Geschichte wegduckt und den selbstauferlegten Zwang zur Verdrängung abschüttelt, würde ihren politischen Spielraum erweitern. Sie könnte mit mehr als ihrem geostrategischen Gewicht, ihrer überwiegend jungen Bevölkerung und ihrem dynamischen, kreativen Potenzial punkten — nämlich mit der Souveränität, Meinungsvielfalt und -freiheit zuzulassen. Der Pluralismus der Erinnerung stärkt die Demokratie von innen, gerade weil er die Bürger mit all ihren unterschiedlichen Erfahrungen und Sichtweisen einbezieht. Das Land würde wie von selbst an das pluralistische Europa heranrücken.

2 Abdullah Gül war von 2007-14 Präsident der türkischen Republik.

aus: Sibylle Thelen, Die Armenienfrage in der Türkei. © Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010, S. 75-77

Ufuk Özbe: Du Armenier!

Vgl.: http://www.zeit.de/2015/18/gedenktag-voelkermord-armenier-tuerkei-leugnung

Ufuk Özbe: Du Armenier, in: DIE ZEIT Nr. 18/2015, 29. April

 

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