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AB 2-4: Die Bal­kan­krie­ge

M1 Die Bal­kan­krie­ge 1912/13

Karte Balkankriege

Ver­grö­ßern Bild­quel­le: Atlas zur Welt­ge­schich­te, Vadim Os­walt et al. (Hg.), Stutt­gart: [C] Ernst Klett Ver­lag GmbH 2011. S. 337

M2 Zwei Au­gen­zeu­gen des Bal­kan­krie­ges

Nach den bei­den Bal­kan­krie­gen in den Jah­ren 1912 und 1913 hatte das Os­ma­ni­sche Reich auch seine letz­ten eu­ro­päi­schen Ge­bie­te mit Aus­nah­me eines klei­nen Ge­biets west­lich von Is­tan­bul ver­lo­ren. Damit en­de­te für das Viel­völ­ker­reich eine etwa fünf­hun­dert Jahre wäh­ren­de Ära der Prä­senz auf dem eu­ro­päi­schen Kon­ti­nent. 85 Pro­zent des eins­ti­gen Ter­ri­to­ri­ums in Eu­ro­pa, Nord­afri­ka und im Mitt­le­ren Osten waren zu die­sem Zeit­punkt ver­lo­ren. Die Nie­der­la­ge auf dem Bal­kan wurde in der Haupt­stadt des schrump­fen­den Im­pe­ri­ums auch des­halb als ein­schnei­dend emp­fun­den, weil sie mit mas­si­ven Ver­trei­bun­gen von Tür­ken und Mus­li­men ein­her­ging. Den Ver­trei­bun­gen waren viel­fach Gräu­el­ta­ten vor­aus­ge­gan­gen. Leo Trotz­ki, der da­mals als Kriegs­kor­re­spon­dent einer Kie­ver Zei­tung auf dem Bal­kan un­ter­wegs war, gab einen Au­gen­zeu­gen­be­richt aus dem ma­ze­do­ni­schen Stip wie­der:

„Ich bin vor vier Tagen an­ge­kom­men und be­dau­re schon, dass ich über­haupt hier­her ge­fah­ren bin. Ich fand einen ab­so­lut fürch­ter­li­chen Zu­stand vor. Ich hätte nie­mals ge­dacht, dass so etwas mög­lich sein könn­te. [...] Die tür­ki­schen und jü­di­schen Häu­ser, also die halbe Stadt, sind völ­lig leer. Alle Läden und Häu­ser in die­sem Stadt­teil sind ge­plün­dert und sogar zer­stört. Dieb­stahl und Mord pas­sie­ren die ganze Zeit über. Vor mei­nen Augen über­fie­len am 2. No­vem­ber mit­tags 20 bis 25 Cet­niks (Tschet­nik1 und Land­strei­cher einen alten Juden von 60 oder 70 Jah­ren und zer­schlu­gen ihm den Kopf. Ich misch­te mich ein und be­gann nach der Po­li­zei zu rufen. „Hal­tet ihn, er ist auch ein Jude!' Sie jag­ten mir hin­ter­her, und ich muss­te flie­hen. Ich ver­barg mich in mei­ner Woh­nung [...]. Nach einer kur­zen Be­la­ge­rung ent­fern­ten sich die Po­grom­hel­den. [...] Ohne Mühe fand man her­aus, wer den alten Mann ge­tö­tet hatte: Es waren wohl­be­kann­te Cet­niks [..] Nie­mand von ihnen wurde je­doch be­straft. Es gibt hier keine Ar­mee­trup­pen, und diese Cet­niks sind die ab­so­lu­ten Her­ren der Lage. [...] Ein furcht­ba­rer Zu­stand? Manch­mal musst du zu­se­hen, wie diese fried­li­chen tür­ki­schen Bau­ern ohne Grund ge­tö­tet wer­den, wie ihre Sa­chen ge­plün­dert wer­den und wie die Frau­en und Kin­der vor Hun­ger ster­ben - da zer­springt dir das Herz fast vor Kum­mer. Auf dem Weg von Ra­do­vis­te nach Stip sind etwa 2000 tür­ki­sche Flücht­lin­ge, vor­wie­gend Frau­en und Kin­der, ge­stor­ben, vor Hun­ger, im di­rek­ten Sinne des Wor­tes, vor Hun­ger..."

Ein bri­ti­scher Jour­na­list aus Kon­stan­ti­no­pel: „Die Tür­kei ist ge­bro­chen, Or­ga­ni­sa­ti­on ist nicht vor­han­den, das Land ist au­ßer­stan­de, seine Sol­da­ten vor dem Hun­ger­to­de zu schüt­zen, wie soll sie dem Mil­lio­nen­an­sturm ge­gen­über­tre­ten? [...] Kon­stan­ti­no­pel kann nicht ein Zehn­tel die­ser Masse in sich auf­neh­men, auch wenn man be­rück­sich­tigt, dass der Zug der Hun­gern­den klei­ner wird, weil schon jetzt die Er­schöpf­ten am Weg­rand lie­gen blei­ben, um zu ster­ben. [...] Das Land, das ver­las­sen hin­ter die­sem Volke liegt, wird in einer Ge­ne­ra­ti­on nicht wie­der be­völ­kert wer­den kön­nen. Doch das ist ferne Zu­kunft. Erst wird der Tod noch furcht­ba­re Ernte hal­ten. [...] Eine halbe Na­ti­on wird buch­stäb­lich ver­hun­gern.“

1 Be­griff u.a. für (meist christ­li­che) Auf­stän­di­sche im Kampf gegen das Os­ma­ni­sche Reich

zi­tiert nach Mi­cha­el Schwartz: Eth­ni­sche „Säu­be­run­gen“ in der Mo­der­ne. Glo­ba­le Wech­sel­wir­kun­gen na­tio­na­lis­ti­scher und ras­sis­ti­scher Ge­walt­po­li­tik im 19. und 20. Jahr­hun­dert. Mün­chen 2013, S. 306

M3 Die tür­ki­schen Ver­trei­bun­gen aus Sicht der tür­ki­schen Frau­en­recht­le­rin Ha­li­de Edip

Die Schrift­stel­le­rin Ha­li­de Edip Adıvar (1884–1964) war vor und im Ers­ten Welt­krieg als Leh­re­rin und Schul­in­spek­to­rin tätig. Spä­ter schloss sich die Frau­en­recht­le­rin der tür­ki­schen Un­ab­hän­gig­keits­be­we­gung unter Mus­ta­fa Kemal, dem spä­te­ren Ata­türk, an. Als es zum po­li­ti­schen Bruch mit ihm kam, emi­grier­ten sie und ihr Mann nach Eng­land und kehr­ten erst nach Ata­türks Tod 1938 wie­der in die Tür­kei zu­rück. Ha­li­de Edip Adıvars Le­bens­ge­schich­te, die sie zu­nächst auf Eng­lisch, spä­ter auch in tür­ki­scher Spra­che nie­der­schrieb, spie­gelt die dra­ma­ti­schen Ver­än­de­run­gen ihres Lan­des zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts. Mit kri­ti­schem Blick kom­men­tier­te sie die Er­eig­nis­se, so auch die Ver­trei­bung zahl­rei­cher Tür­ken und Mus­li­me vom Bal­kan im Zuge der Bal­kan­krie­ge.

Als ich aus Eng­land zu­rück­kehr­te, trat Ende Au­gust 1912 die Tür­kei in den Bal­kan­krieg ein. Das bri­ti­sche Par­la­ment unter Lord As­quith2 ver­si­cher­te, der Sta­tus quo werde re­spek­tiert, gleich­gül­tig, wie die­ser Krieg enden soll­te. Die Tür­kei ging aus die­sem Krieg mit einer der größ­ten Nie­der­la­gen ihrer Ge­schich­te her­vor. Drei­tau­send ma­ze­do­ni­sche Tür­ken und Mus­li­me wur­den ge­tö­tet.

Es stell­te sich her­aus, dass Lord As­quiths Er­klä­rung nichts wei­ter als eine Maß­nah­me gegen einen tür­ki­schen Sieg ge­we­sen war. Nie­mand regte sich über die Mas­sa­ker an der tür­ki­schen Be­völ­ke­rung auf. Dass die Eu­ro­pä­er an die Tür­ken und an die christ­li­chen Min­der­hei­ten zwei­er­lei Maß an­leg­ten, heiz­te mei­ner Mei­nung nach die na­tio­na­len Ge­füh­le in der Tür­kei an. Noch schlim­mer war, dass diese Po­li­tik dem — wenn auch un­be­wuss­ten — Ge­dan­ken Vor­schub leis­te­te, dass die Tür­ken die nicht mus­li­mi­schen Min­der­hei­ten in ihrem Land ver­nich­ten muss­ten, woll­ten sie nicht selbst zu Op­fern wer­den.

Nie hat es in un­se­rer Ge­schich­te einen schlech­ter or­ga­ni­sier­ten Rück­zug ge­ge­ben. Flücht­lin­ge, die Ma­ze­do­ni­en in Panik ver­las­sen hat­ten, füll­ten die Is­tan­bu­ler Mo­sche­en. Eine Cho­le­ra-Epi­de­mie for­der­te viele Opfer unter den Im­mi­gran­ten und den Sol­da­ten. Das Elend, das in jenem Win­ter in Is­tan­bul herrsch­te, ist un­vor­stell­bar.

2 Pre­mier­mi­nis­ter des Ver­ei­nig­ten Kö­nig­reichs, 1908–1916

Ha­li­de Edip Adıvar: Mein Weg durchs Feuer. Er­in­ne­run­gen, Tür­ki­sche Bi­blio­thek, aus dem Tür­ki­schen von Ute Birgi-Knel­les­sen, Zü­rich 2010, S. 180

M4 Eth­ni­sche Säu­be­run­gen wäh­rend des Bal­kan­kriegs

Trotz der Kürze der ei­gent­li­chen Kampf­hand­lun­gen, die in bei­den Bal­kan­krie­gen je­weils nur einen guten Monat lang dau­er­ten, be­deu­te­ten sie einen Ein­schnitt in der mo­der­nen Kriegs­füh­rung. Die auf­ge­rüs­te­ten Ar­me­en, die mehr als 750.000 Sol­da­ten mo­bi­li­sier­ten, be­kämpf­ten sich nicht nur ge­gen­sei­tig, son­dern gin­gen ge­zielt gegen die Zi­vil­be­völ­ke­rung vor. Die Car­ne­gie-Kom­mis­si­on, die kurz nach dem Ende des Krie­ges in die be­trof­fe­nen Ge­bie­te reis­te, be­ob­ach­te­te an ver­schie­de­nen Fron­ten das immer glei­che Schre­ckens­sze­na­rio: »Hou­ses and whole vil­la­ges re­du­ced to ashes, un­ar­med and in­no­cent po­pu­la­ti­ons mas­sa­cred en masse, in­credi­b­le acts of vio­lence, pil­la­ge and bru­ta­li­ty of every kind.« […]

Wie be­reits in den Tür­ken­krie­gen von 1876-1878 be­ruh­te die […] »Rache« je­doch we­ni­ger auf vor­he­ri­gen Über­grif­fen unter os­ma­ni­scher Herr­schaft, son­dern auf einer Ver­ach­tung der Tür­ken, die sich aus re­li­giö­sen Mo­ti­ven und ori­en­ta­lis­ti­schen Ein­stel­lun­gen speis­te. Häu­fig es­ka­lier­te die Ge­walt erst, nach­dem die Kriegs­geg­ner mi­li­tä­risch be­reits aus­ge­schal­tet, wehr­los und er­nied­rigt waren. […]

Das Aus­maß der Flucht­be­we­gun­gen wäh­rend der Bal­kan­krie­ge war eben­so prä­ze­denz­los wie die Zahl der zi­vi­len Opfer. Zu­nächst flo­hen ent­spre­chend dem Kriegs­ver­lauf vor allem Mus­li­me. Oft waren sie be­reits vor den her­an­zie­hen­den Ar­me­en ge­flo­hen, was ein­mal mehr die ge­wach­se­ne Asym­me­trie zwi­schen Mi­li­tär und Zi­vi­lis­ten be­legt. Bis zum Herbst 1913 tra­fen al­lein in Sa­lo­ni­ki über 150.000 Mus­li­me ein und war­te­ten dort ver­zwei­felt auf ihren Trans­port über den See­weg nach Klein­asi­en. In Thra­ki­en be­fan­den sich ent­lang der bul­ga­risch-tür­ki­schen Front je­weils etwa 50.000 Bul­ga­ren und Tür­ken auf der Flucht. […]

Noch weit um­fang­rei­cher als die Flucht an den di­ver­sen Fron­ten der zwei Bal­kan­krie­ge waren die Be­völ­ke­rungs­ver­schie­bun­gen nach dem Ende des Kon­flikts. Etwa 240.000 Mus­li­me, die aus den von Ser­bi­en und Grie­chen­land er­ober­ten Ge­bie­ten nach Sa­lo­ni­ki ge­flo­hen waren, wur­den mit Schif­fen nach Klein­asi­en ge­bracht, wei­te­re 40.000 nah­men den Land­weg über Ka­val­la. Grie­chen­land un­ter­stütz­te diese Flucht be­reit­wil­lig und ließ sogar tür­ki­sche Schif­fe an­lan­den. Ins­ge­samt nahm das Os­ma­ni­sche Reich bis 1914 nach of­fi­zi­el­len An­ga­ben 413.000 süd­ost­eu­ro­päi­sche Mus­li­me auf. Eine zwei­te Mi­gra­ti­ons­wel­le ver­lief in Rich­tung Grie­chen­land. Aus Klein­asi­en und Bul­ga­ri­en flo­hen bis zum Früh­jahr 1914 etwa 170.000 Grie­chen, Bul­ga­ri­en re­gis­trier­te zur glei­chen Zeit 150.000 Flücht­lin­ge. Ins­ge­samt er­gibt sich eine Zahl von min­des­tens 890.000 Men­schen, die in­fol­ge der bei­den Bal­kan­krie­ge dau­er­haft zur Auf­ga­be ihrer Hei­mat ge­zwun­gen wur­den.

Phil­ipp Ther, Die dunk­le Seite der Na­tio­nal­staa­ten. „Eth­ni­sche Säu­be­run­gen“ im mo­der­nen Eu­ro­pa, Göt­tin­gen 2011, S. 71ff

 

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Wei­ter zu AB 2-5: 1. WK und das Os­ma­ni­sche Reich