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Ma­te­ri­al im­pe­ria­le Dis­kon­ti­nui­tä­ten und Kon­ti­nui­tä­ten in der So­wjet­uni­on

M1 Der Ost-Eu­ro­pa His­to­ri­ker An­dre­as Kap­peler über Dis­kon­ti­nui­tä­ten und Kon­ti­nui­tä­ten im So­wjet­sys­tem

In­wie­fern stand das so­wje­ti­sche Herr­schafts­sys­tem in der Tra­di­ti­on der za­ri­schen Au­to­kra­tie? Zu­nächst fal­len fun­da­men­ta­le Un­ter­schie­de ins Auge: – Eine neue, vom Wes­ten über­nom­me­ne und an die Ver­hält­nis­se Russ­lands an­ge­pass­te uto­pi­sche Ideo­lo­gie; – die neue Or­ga­ni­sa­ti­ons­form der Le­n­in­schen Par­tei als Avant­gar­de des Pro­le­ta­ri­ats; – neue, aus In­tel­li­gen­zia und In­dus­trie­pro­le­ta­ri­at re­kru­tier­te po­li­ti­sche Eli­ten; – eine neue staat­li­che Struk­tur auf der Basis des Rä­te­ge­dan­kens, der Ge­wal­ten­tei­lung und des Fö­de­ra­lis­mus, die in­fol­ge der Do­mi­nanz der Par­tei al­ler­dings weit­ge­hend for­mal blieb; – qua­li­ta­tiv neue Me­tho­den der Herr­schafts­aus­übung und Un­ter­drü­ckung, die im Sta­lin­schen Mas­sen­ter­ror gip­fel­ten.

Auf der an­de­ren Seite sind eine ganze Reihe von Über­ein­stim­mun­gen nicht zu über­se­hen, die min­des­tens zum Teil auf Kon­ti­nui­tä­ten zwi­schen za­ri­scher und so­wje­ti­scher Ord­nung ver­wei­sen: – das Macht­mo­no­pol des Herr­schafts­trä­gers, jetzt der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei, das weder Ge­wal­ten­tei­lung noch Rechts­staat zu­lässt; – der jetzt durch die Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei und die so­wje­ti­sche Bü­ro­kra­tie ver­kör­per­te Zen­tra­lis­mus des Herr­schafts­sys­tems, der dem staat­li­chen – die Be­deu­tung in­for­mel­ler Pa­tro­na­ge­be­zie­hun­gen, etwa der po­li­ti­schen Seil­schaf­ten ein­zel­ner Par­tei­füh­rer; – die Per­so­na­li­sie­rung der Herr­schaft, ex­trem in der Dik­ta­tur Sta­lins, der sel­ber Zaren wie Ivan IV. oder Peter den Gro­ßen als seine Vor­bil­der be­zeich­ne­te und des­sen Kult di­rekt an den Za­renglau­ben an­knüpf­te; – die Wie­der­auf­nah­me im­pe­ria­ler und na­tio­na­ler Ideo­lo­gi­en im So­wjet­pa­trio­tis­mus; – die pas­si­ve, durch den Mas­sen­ter­ror Sta­lins noch in weit­aus hö­he­rem Maß als unter dem Za­ris­mus ato­mi­sier­te Ge­sell­schaft.

Trotz die­ser Kon­ti­nui­tä­ten würde eine Gleich­set­zung mit dem Za­ris­mus das so­wje­ti­sche Herr­schafts­sys­tem mit sei­ner viel schär­fe­ren Kon­trol­le und sei­nen men­schen­ver­ach­ten­den Aus­rot­tun­gen und De­por­ta­tio­nen ver­harm­lo­sen. Zahl­rei­che Wis­sen­schaft­ler sehen denn auch im So­wjet­sys­tem etwas grund­sätz­lich Neues. Sie be­to­nen die Be­deu­tung der mar­xis­tisch-le­ni­nis­ti­schen Ideo­lo­gie und der to­ta­len Macht von Par­tei, Ge­heim­po­li­zei und Dik­ta­tor. […]

Die Re­vo­lu­ti­on von 1917 führ­te zur Ab­lö­sung der alten Eli­ten, deren Ver­tre­ter ent­we­der emi­grier­ten, um­ka­men oder so­zi­al ab­san­ken. Eine neue, aus der In­tel­li­genz und den In­dus­trie­ar­bei­tern re­kru­tier­te Ober­schicht re­gier­te den jun­gen So­wjet­staat als Avant­gar­de des Pro­le­ta­ri­ats, blieb al­ler­dings zu­nächst auf Teile der alten Bü­ro­kra­tie an­ge­wie­sen. Die Bau­ern blie­ben die aus­ge­beu­te­te Mehr­heit, er­hiel­ten aber in den zwan­zi­ger Jah­ren eine Atem­pau­se. Sta­lin führ­te sie dann mit der Zwangs­kol­lek­ti­vie­rung in eine neue Leib­ei­gen­schaft, die sie mit nack­ter Ge­walt aus­beu­te­te, sie an die Kol­cho­sen und Sow­cho­sen band und auch recht­lich dis­kri­mi­nier­te. Die In­dus­trie­ar­bei­ter wur­den zwar von der Pro­pa­gan­da als Stüt­zen der So­wjet­ge­sell­schaft ge­prie­sen, in Wirk­lich­keit aber eben­falls aus­ge­beu­tet. Mit In­dus­tria­li­sie­rung, Ur­ba­ni­sie­rung und Bil­dungs­re­vo­lu­ti­on ent­stand in den drei­ßi­ger Jah­ren eine neue so­wje­ti­sche Elite, die nicht mehr in der Tra­di­ti­on der Re­vo­lu­ti­on stand, son­dern aus dem Dorf kon­ser­va­ti­ve Werte mit­brach­te. Sie wurde zur so­zia­len Basis des Sta­li­nis­mus. Zwar wurde ein Teil die­ser neuen Ober­schicht in den „Säu­be­run­gen“ ge­walt­sam aus­ge­wech­selt, den­noch ent­stand unter Sta­lin im Ap­pa­rat der Par­tei- und Staats­bü­ro­kra­tie eine „Neue Klas­se“ (M. Dji­las). Diese „No­men­kla­tu­ra“ kon­so­li­dier­te sich in der Epo­che nach Sta­lins Tod und rich­te­te ihre Po­li­tik ver­stärkt auf die Ab­si­che­rung ihrer Stel­lung aus. Sie war mit weit­rei­chen­den Pri­vi­le­gi­en aus­ge­stat­tet, die den for­ma­len Gleich­heits­prin­zi­pi­en des Kom­mu­nis­mus wi­der­spra­chen und sich auf alle Le­bens­be­rei­che, auf Son­der­lä­den, Dienst­wa­gen, Staats­dat­schas [Wo­chen­end­häu­ser] u.a. er­streck­ten. Die Masse der Be­völ­ke­rung blieb eine ge­gen­über der No­men­kla­tu­ra un­ter­pri­vi­le­gier­te, arme, wenn auch nicht elen­de Grund­schicht, wobei die In­dus­trie­ar­bei­ter und Berg­leu­te einen re­la­tiv bes­se­ren Sta­tus hat­ten als die Bau­ern und Teile der In­tel­li­genz.

Die Pe­restro­j­ka brach­te keine so­zia­le Re­vo­lu­ti­on, blie­ben doch zahl­rei­che An­ge­hö­ri­ge der Par­tei-No­men­kla­tu­ra auf ihren Pos­ten oder wand­ten sich neuen, ein­träg­li­che­ren Tä­tig­kei­ten zu. Gleich­zei­tig for­mier­te sich eine schma­le Elite von „neuen Rus­sen“ aus Ge­schäfts­leu­ten und Ban­kiers, die nicht immer deut­lich zu schei­den ist von der sich rasch aus­brei­ten­den Welt des Ver­bre­chens (Mafia). Der alten und neuen Elite, die eng zu­sam­men­ar­bei­te­ten, stand eine immer brei­te­re Un­ter­schicht ge­gen­über, deren so­zia­le und öko­no­mi­sche Stel­lung sich stän­dig ver­schlech­ter­te und die nicht nur Rent­ner und ar­beits­lo­se Ge­bil­de­te, son­dern auch viele In­dus­trie­ar­bei­ter um­fass­te. Im Zuge des wirt­schaft­li­chen Auf­schwungs zu Be­ginn des 21. Jahr­hun­derts bil­de­te sich all­mäh­lich eine neue Mit­tel­schicht her­aus. Die neue­re So­zi­al­ge­schich­te Russ­lands ist also ge­prägt vom Ge­gen­satz zwi­schen einer mit dem Staat eng ver­bun­de­nen, pri­vi­le­gier­ten Elite und der Masse der be­nach­tei­lig­ten und aus­ge­beu­te­ten Un­ter­schich­ten. Ihren deut­lichs­ten Aus­druck fand diese Kon­stel­la­ti­on in der Leib­ei­gen­schaft und in ihrer mo­der­ni­sier­ten Spiel­art, den Kol­cho­sen. Das dar­aus her­zu­lei­ten­de so­zia­le Pro­test­po­ten­ti­al hat sich in der Frü­hen Neu­zeit in Mas­sen­flucht­be­we­gun­gen und Volks­auf­stän­den und zu Be­ginn des 20. Jahr­hun­derts in Re­vo­lu­tio­nen ent­la­den. Die­ser seit Jahr­hun­der­ten immer wie­der ar­ti­ku­lier­te Wi­der­stand gegen Eli­ten und Staats­ge­walt schränkt die These von der Pas­si­vi­tät der rus­si­schen Ge­sell­schaft eben­falls ein. Ob die Pro­test­be­we­gung, die seit De­zem­ber 2011 mit Mas­sen­de­mons­tra­tio­nen auf­trat, Pu­tins au­to­ri­tä­res Sys­tem ver­än­dern oder gar stür­zen wird, lässt sich noch nicht ab­schät­zen.

Die rus­si­sche Ge­schich­te ist nicht nur aus der in­ne­ren Ent­wick­lung her­aus zu er­klä­ren, son­dern wurde auch von Au­ßen­po­li­tik und Krie­gen be­stimmt. Das Russ­län­di­sche Reich und die So­wjet­uni­on waren im­pe­ria­le Mäch­te, deren Au­ßen­po­li­tik eine Ei­gen­dy­na­mik ent­fal­te­te, die stra­te­gi­sche Er­wä­gun­gen und Pres­ti­ge­den­ken in den Vor­der­grund stell­te. Hohe Prio­ri­tät hatte des­halb für den Staat eine schlag­kräf­ti­ge Armee, die seit dem 18. Jahr­hun­dert die größ­te Eu­ro­pas war. Der Un­ter­halt der Streit­kräf­te ver­schlang be­deu­ten­de mensch­li­che und fi­nan­zi­el­le Res­sour­cen, die der wirt­schaft­li­chen und so­zia­len Ent­wick­lung Russ­lands ent­zo­gen wur­den. An­de­rer­seits gab der Zwang zur mi­li­tä­ri­schen Mo­der­ni­sie­rung unter Peter dem Gro­ßen und Alex­an­der II. wich­ti­ge Re­form­im­pul­se. Die Be­wer­tung der im­pe­ria­len Ex­pan­si­on, die Russ­land zum größ­ten Staat der Erde wer­den ließ, ist in Russ­land bis heute um­strit­ten. Man hat die jahr­hun­der­te­lan­ge Ex­pan­si­on Russ­lands zu­wei­len auf seine of­fe­nen Gren­zen und den aus sei­ner Kon­ti­nen­ta­li­tät her­zu­lei­ten­den Drang zu den Welt­mee­ren zu­rück­füh­ren wol­len. Mehr Er­klä­rungs­kraft hat je­doch ein gan­zes Bün­del von macht­po­li­ti­schen, wirt­schaft­li­chen und geis­ti­gen Fak­to­ren in der je­wei­li­gen his­to­ri­schen Si­tua­ti­on. Wäh­rend im Aus­land das Bild eines ag­gres­si­ven rus­si­schen Im­pe­ria­lis­mus vor­herrscht, wird von rus­si­scher Seite der de­fen­si­ve Cha­rak­ter der Au­ßen­po­li­tik be­tont: Ex­pan­si­on wird als Ant­wort auf Be­dro­hung oder In­va­si­on von außen ge­deu­tet, und als große Hel­den der Ge­schich­te gel­ten nicht Er­obe­rer, son­dern Ver­tei­di­ger des Va­ter­lan­des […].

Kap­peler, An­dre­as: Rus­si­sche Ge­schich­te, 6. ak­tua­li­sier­te Auf­la­ge, Beck, Mün­chen 2014.
Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Ver­lags C.H. Beck

M2 Na­tio­na­li­tä­ten­po­li­tik in der So­wjet­uni­on

Text aus:

Die Union der So­zia­lis­ti­schen So­wjet­re­pu­bli­ken war ein Im­pe­ri­um, ... soll­te je­doch nicht ge­för­dert wer­den: die Re­li­gi­on.

Bur­bank, Jane/Co­oper, Fre­de­rick: Im­pe­ri­en der Welt­ge­schich­te, Frank­furt am Main/New York (Cam­pus) 2012, S. 492-495.

 

Ma­te­ri­al im­pe­ria­le Dis­kon­ti­nui­tä­ten und Kon­ti­nui­tä­ten in der So­wjet­uni­on: Her­un­ter­la­den [docx][22 KB]

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Wei­ter zu Se­quenz­pla­nung Struk­tu­rier­ter Über­blick