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AB 1-3: Augenzeugenberichte

M 1 Das Auswärtige Amt an den Geschäftsträger in Konstantinopel (Neurath)

Im Osmanischen Reich waren zur Zeit des Ersten Weltkriegs nicht nur deutsche Militärs stationiert, es gab auch zahlreiche deutsche Konsulate, Missionsstationen, Krankenhäuser und Schulen, hinzu kamen die Mitarbeiter der Bagdadbahn und Geschäftsleute. Viele von ihnen wurden zu Augenzeugen der Vertreibung der Armenier. Beim Auswärtigen Amt in Berlin gingen Berichte von ganz unterschiedlicher Seite über die Vorgänge in Anatolien ein, so auch dieser Bericht des im ostanatolischen Erzincjan (Erzincan) stationierten Arztes Dr. Neukirch. Das Auswärtige Amt schickte eine Abschrift an die deutsche Botschaft in Konstantinopel.

Nr. 838

Berlin, den 6. November 1915

1 Anl. Der abschriftlich anliegende Bericht des der Roten Kreuz Expedition angehörenden deutschen Arztes Dr. Neukirch aus Erzindjan über die Armenierfrage wird zur gefälligen Kenntnisnahme ergebenst übersandt." Anlage: Abschrift Erzindjan 5. VIII 15:

„Die armenische Frage ist für Erzindjan zunächst erledigt. Ausser wenigen von der Regierung zurückbehaltenen Handwerkern ist kein einheimischer Armenier mehr hier. […]

Es hat eine vollkommene Entfernung aller Armenier aus diesem Lande stattgefunden, offenbar als Antwort auf die Verrätereien in Wan. In den ersten Wochen sind fraglos schwerste Mißgriffe vorgekommen, späterhin ist die Sache für orientalische Verhältnisse ziemlich geordnet verlaufen. Massaker haben hier offenbar seit Mitte Juni nicht mehr stattgefunden. Die wirtschaftlichen Folgen sind unübersehbar.“

aus: Wolfgang Gust (Hrsg.): Der Völkermord an den Armenier 1915/16, Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, Springe 2005, S. 349, 1915-11-06-DE-011 PA-AA1BoKon1171; A53a, 6600; p. 15.11.1915; Erlaß Abdruck: DuA Dok. 192 (gk.)

M 2 Angaben der Schwester Alma Johansson (Schwedin) von den Anstalten des Deutschen Hülfsbundes f. christliches Liebeswerk im Orient in Musch über die Armenierverfolgungen in Musch. (5. XI.)

Alma Johansson (1880–1974) war eine schwedische Krankenschwester. Anfang des 20. Jahrhunderts ging sie in das Osmanische Reich. Unter anderem arbeitete sie in einem Waisenheim in der ostanatolischen Stadt Musch (Muş) in deutscher Trägerschaft. Der Deutsche Hülfsbund (Hilfsbund) für christliches Liebeswerk im Orient war 1896 gegründet worden. Alma Johansson wurde zur Augenzeugin von Mord und Vertreibung, ohne zur Rettung ihrer Schützlinge beitragen zu können. Sie legte Bericht über die Vorgänge ab, so auch in dieser Aufzeichnung.

(NB. In Musch besteht ein Waisenhaus für Knaben u. ein zweites für Mädchen, und eine Poliklinik, die s.g. ärztliche Station)

Die Stadt Musch zählt 50.000 E., von denen die eine Hälfte Armenier die andere Mohammedaner (Kurden, Türken); im Bezirk Musch etwa 300 Dörfer, meist armenisch.

Während des Winters wurde die männliche Armenische Bevölkerung bei den Proviant- u. Munitionskolonnen für den östlichen Kriegsschauplatz verwendet; von diesen Leuten kehrten nur die wenigsten zurück, von 2 — 300 im Durchschnitt kaum 50.

Im Frühling wurden die Armenischen Dörfer zerstört, nachdem sie schon vorher durch Einquartierung und Requisitionen schwer heimgesucht waren.

[…] Am 11. Juli, Sonntag Nacht, wurde das Massaker mit Gewehrschüssen eingeleitet; die Türken behaupteten, daß einige Armenier den Versuch gemacht hätten sich nach Sassun durchzuschlagen.

Einigen wohlhabenden Armeniern wurde […] eröffnet, daß sie in drei Tagen mit der gesamten Bevölkerung die Stadt zu verlassen hätten, aber all ihre Habe, die nunmehr der Regierung gehörte, zurücklassen müßten.

Ohne den Ablauf dieser Frist abzuwarten, begannen die Türken schon nach zwei Stunden in die Armenischen Häuser einzudringen und zu plündern.

Montag, den 12. hielt das Geschütz- und Gewehrfeuer den ganzen Tag an; die türkische Bevölkerung nahm daran teil.

Am Abend drangen Soldaten in das Mädchenwaisenhaus ein um nach versteckten Armeniern zu suchen.

In der Nacht und am folgenden Tage wurde noch viel geschossen. Beim Versuch das Hoftor zu schließen wurden eine Frau und ein Waisenmädchen neben der Schwester Johansson durch Kugeln getötet.

[…] Die männliche Armenische Bevölkerung ist gleich vor der Stadt umgebracht worden; die Frauen, Mädchen und Kinder hat man noch eine Tagereise weiter geschleppt und dann beseitigt. Nur drei armenische Lehrerinnen vom Waisenhause sind später freigelassen worden.

Nach Räumung der Stadt wurde das Armenische Viertel in Brand gesteckt und dem Erdboden gleich gemacht; ebenso die armenischen Dörfer.

aus: ebda., S. 350, 1915-11-06-DE-012, Quelle: PA-AA/BoKon/171; A53a, 6448; p. 8.11.1915 Abdruck: DuA Dok. 196 (gk.) [Aufzeichnung Mordtmann 6.111

M 3 Sarkis Manukian Dr. phil.: Meine Erlebnisse von Erzerum bis Surudj. Aleppo, den 25. November 1915

Der Armenier Sarkis Manukian hatte in Leipzig Philosophie studiert. Als der Erste Weltkrieg begann, war er als Deutschlehrer in der ostanatolischen Stadt Erzurum tätig. Am 19. Juni 1915 musste er seine Heimatstadt zusammen mit etwa 500 Familien verlassen. Manukian konnte von der Deportation berichten, weil ihm die Flucht gelang. Der Lehrer, der auch die kurdische Sprache beherrschte, entkam mit Hilfe von Kurden. In dieser Quelle beschreibt er die Zustände auf dem Marsch bis nach Surudj (Suruç), einer Stadt nahe der heutigen Grenze zu Syrien.

Von Erzerum brachen wir 500 Familien stark am 19. Juni d. J. auf und kamen am 2. Juli in Erzingian in. Der Weg war verhältnissmässig ruhiger, da dreihundert Soldaten und ein Hauptmann uns begleiteten obschon kleine Ueberfalle und Beraubungen seitens der Kurden häufig stattfanden. Ausserdem mussten wir den Soldaten und ihrem Befehlshaber Kiamil Effendi zahlen. So befahl man uns. Von Erzingian kamen wir in Kemach an. Dort, eine Liste in der Hand, hatten der Hauptmann Kiamil Effendi und mehrere Komitadjis (Komitee-Mitglied1) 200 Personen dem Namen nach abgesondert und ganz einfach erklärt, dass sie für den Tod bestimmt sind. Sie wurden abgeführt. Von Kemach kamen wir in Malatia an. Dort hat die Regierung 400 Zelte von uns weggenommen — unsere eigenen. „Sie sind uns nötig" — So kurz erklärte der Mutesarrif2 der Stadt dieses Benehmen. 4 Zelte blieben uns. Von Malatia bis Surudj hat die Regierung den Zivil-Kaimmakam3 Nuri Bey von Hüsnimansur als Führer uns gegeben und die Kurdenchefs Hadji Bedr Bey und sein Bruder Seynal Bey mussten mit ihm zusammen sein, begleitet von ihren zahlreichen Leuten. Kaum waren wir zwei Tage unsern Weg von Malatia aus weiter gegangen, auf unbegangenen Bergen, jeden Tag etwa nur zwei oder drei Stunden weit, haben wir erst verstanden, warum diese Kurden auf Befehl der Regierung uns begleiteten. Man hat alle Männer in einem engen Tale gesammelt, wir waren da 2115 männliche Personen (Wir mussten unseren kurdischen und türkischen Führern nach der Kopfzahl unserer Leute Geld geben, wir führten daher eine Liste, sodass ich die Zahl genau weiss.) Frauen und Kinder waren bereits fort. Die Kurden und Gendarmen erklärten uns „Sie werden jetzt sterben, aber wir sind nicht schuldig, die Regierung verlangt es". Wir wurden gebunden. Widerstand haben wir mit Rücksicht auf unsere Frauen und Kinder nicht versucht. Seynal Bey war tätig, er hat alle einzeln durch Kurden und Gendarmen vor sich bringen lassen, jedem wurde was er hatte weggenommen um kaum zehn Schritte weit hingerichtet zu werden. Es wurde mit Messer und Beil der Kopf abgeschnitten und die Leichen in einen Abgrund geworfen. […] 2000 Personen haben hier ihren Tod gefunden. Nur 115 Mann haben sich durch Wunder gerettet. Es waren solche, die etwas kurdisch konnten und durch Geldversprechungen bewirkten, dass sie nicht vor Seynal Bey geführt wurden, auch ich befand mich unter diesen, da ich kurdisch spreche. Am nächsten Tag, als wir Erretteten die Frauen und Kinder wiedergefunden hatten die zwei Stunden von dem Hinrichtungsplatz entfernt waren, kamen zwei Beamte aus Malatia, um was wir hatten, in Beschlag zu nehmen. Wir mussten alle unsere Sachen: Kleidung, Bett, Goldsachen, Geld, ferner Ochsen, (über 800) Pferde, Esel usw. weggeben, um unser Leben von neuem zu erretten. Nach zwei Tagen verlangten der Kaimmakam und Seynal Bey 3000 Pfund. Wir mussten entweder diese Summe verschaffen oder sterben. Die Frauen hatten noch etwas Goldsachen und Geld bei sich, das haben wir auch weggegeben […].

Von hier nach sieben Tagen kamen wir in Surudj an, die ganze Wanderung hatte 3 Monate gedauert. Von 600 Familien sind jetzt 110 Familien übrig geblieben.

1 Gemeint ist das sog. Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terraki), vgl. Glossar.

2 Autoritätsperson der Verwaltung

3 Landrat

aus: ebda., S. 389f.; 1915-11-30-DE-001, Quelle: PA-AA/R 14089; A 36213, pr. 15.12.1915 p.m.; Bericht, Anlage 2

M 4 Bericht über die Ereignisse in Ersindjan, 28. Juni 1915.

Die Norwegerin Thora von Wedel-Jarlsberg und die Deutsche Eva Elvers waren als Krankenschwestern im Osmanischen Reich tätig. Im Juni 1915 sahen die beiden Frauen mit an, wie Armenier in der Nähe der ostanatolischen Stadt Ersindjan (Erzincan) vertrieben wurden. Ihr ausführlicher Bericht wurde vom Deutschen Hülfsbund für christliches Liebeswerk im Orient an das Auswärtige Amt weitergegeben – mit dem einleitenden Hinweis, dass die beiden Krankenschwestern einige Jahre unter Armeniern und Kurden gearbeitet hätten. Am 21. Juli 1915 suchten Thora von Wedel-Jarlsberg und Eva Elvers zudem Generalkonsul Johann Heinrich Mordtmann in der deutschen Botschaft in Konstantinopel (Istanbul) auf, um Bericht abzulegen.

Vom Oktober 1914 bis April 1915 pflegten wir in Erzerum türkische Soldaten und traten dann in den Dienst des Roten Kreuzes in Ersindjan, wo ein Hospital eingerichtet ist mit 4 deutschen Ärzten und einem - großen Pflegepersonal.

Anfang Juni teilte uns der Leiter der Rote Kreuz Expedition, Stabsarzt Dr. Colley mit, dass die Armenier in Wan sich gegen die Regierung erhoben hätten und dass Befehl gekommen sei, ihre Volksgenossen aus den Provinzen, wo sie in der Majorität sind, nach der mesopotamischen Ebene zu verpflanzen. Es würden aber keine Massaker stattfinden, sondern die Ausgewiesenen sollten mit allem Nötigen versehen werden, und für ihre Sicherheit würde durch militärische Eskorte gesorgt. Jeglicher Verkehr mit den durchziehenden Armeniern wurde uns verboten, ebenso wurden weitere Ritte und Spaziergänge untersagt. Die in Ersingjan wohnenden Armenier bekamen einige Tage Zeit, um ihre Sachen zu verkaufen, und vor dem Auszug wurden die Schlüssel ihrer Häuser der Behörde übergeben.

Am 7. Juni ging der erste Transport ab. Er bestand hauptsächlich aus Wohlhabenderen, die sich einen Wagen mieten konnten, und sie sollen wirklich das nächste Reiseziel Charput erreicht haben. Am 8., 9. & 10. Juni verliessen neue Scharen die Stadt, im Ganzen 20 — 25.000 Personen. […]

Von jetzt an kamen fortwährend Züge von Ausgewiesenen durch Ersingjan, doch sahen wir sie nicht, da sie meist in der Nacht vorbeigetrieben wurden oder auf anderem Wege. Doch am Abend des 18. gingen wir mit unserem Freunde, Herrn Gehlsen, vor unserem Hause auf und ab. Da begegnete uns ein Gendarm, der uns erzählte, dass kaum 10 Minuten oberhalb des Hospitals eine Schar Frauen und Kinder aus der Baiburtgegend übernachte. Er hatte sie selber treiben helfen und erzählte nun in erschütternder Weise, wie es ihnen auf dem weiten Wege ergangen sei. „Schlachtend, schlachtend, bringen sie sie daher. Jeden Tag 10 — 12 Männer getötet und in die Schluchten geworfen, den Kindern, die nicht mitkommen können, die Schädel eingeschlagen, die Frauen bei jedem neuen Dorfe beraubt und geschändet. Ich selber habe 3 nackte Frauenleichen begraben lassen, Gott möge es mir zurechnen", so schloss er seinen grauenerregenden Bericht. Während wir mit diesem Manne sprachen, waren die deutschen Herren zu Gaste bei einem türkischen Offizier, der seine Genesung vom Typhus mit einem Gartenfeste feierte.

Am folgenden Morgen in alle Frühe hörten wir, wie die Todgeweihten vorüberzogen. Wir schlossen uns ihnen an und gingen mit ihnen zur Stadt. Der Jammer war unbeschreiblich. Es waren nur 2 Männer übrig geblieben, von den Frauen waren einige geisteskrank geworden; eine rief: „Wir wollen Moslem werden. Wir wollen Deutsche werden, was ihr wollt, nur rettet uns, jetzt bringen sie uns nach Kemagh und schneiden uns die Hälse ab." Dabei machte sie eine bezeichnende Gebärde. Andere flehten uns für ihre Kinder an, wieder andere zogen stumpf und teilnahmslos daher. Als wir uns der Stadt näherten, kamen viele Türken geritten und holten sich Kinder oder junge Mädchen. Am Eingang der Stadt, wo auch die deutschen Aerzte ihr Haus haben, machte die Schar einen Augenblick halt, ehe sie den Weg nach Kemagh einschlug. Hier war es der reine Sklavenmarkt, nur dass nichts gezahlt wurde; die Mütter schienen die Kinder gutwillig abzugeben und Widerstand hätte auch nichts genützt. Wir nahmen 6 Jungens von 8 — 14 Jahren, die sich verzweifelt an uns festkrallten und 1 kleines Mädchen. Dann zog die übrige Schar, vielleicht einige hunderte, weiter unter lautem Jammergeschrei, während die berittenen Gendarmen ihre Peitschen über ihnen schwangen.

[…] Auf dem Weg begegnete uns ein grosser Zug von Ausgewiesenen, die erst kürzlich ihre Dörfer verlassen hatten und noch in gutem Stande waren. Wir mussten lange halten, um sie vorüber zu lassen und nie werden wir den Anblick vergessen. Einige wenige Männer, sonst Frauen und eine Menge Kinder, viele davon mit hellem Haar und grossen blauen Augen, die uns so toternst und mit solch unbewusster Hoheit anblickten, als wären sie schon Engel des Gerichts. In lautloser Stille zogen sie dahin, die Kleinen und die Grossen bis auf die uralte Frau, die man nur mit Mühe auf dem Esel halten konnte, alle, alle um zusammengebunden vom hohen Felsen in die Fluten des Euphrat gestürzt zu werden. In jenem Tale des Fluchs Kemagh Boghasy. So machte man es jetzt, erzählte uns ein griechischer Kutscher, und die Leichen sind ja auch flussabwärts tiefer unten gesehen worden. Das Herz wurde einem zu Eis. Unser Gendarm erzählte, er habe eben einen solchen Zug von 3000 Frauen und Kindern von Mama Chatun, 2 Tage von Erzerum, nach Kemagh gebracht. „Alle weg", „Hep gitdi bitdi", sagte er. Wir: „Wenn ihr sie töten wollt, warum tut Ihr es nicht in ihren Dörfern, warum erst sie so namenlos elend machen?" Er: „So ist es recht, sie müssen elend werden. Und — wo sollten wir mit den Leichen hin? Die würden ja stinken!!!"

Thora von Wedel-Jarlsberg/Eva Elvers

ebda., S. 259ff., [1915-08-21-DE-001, Quelle: PA-AA/R 14087; A 24724, pr. 22.8.1915 a.m.; Privatschreiben, Anlage]

 

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