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AB 2-3: Son­der­rol­le der Ar­me­ni­er in Ana­to­li­en

M1 Die ar­me­ni­sche Ge­mein­schaft im Os­ma­ni­schen Reich

Unter der Herr­schaft der Os­ma­nen wurde eine auf den is­la­mi­schen Rechts­vor­stel­lun­gen der Scha­ria ba­sie­ren­de Ge­sell­schafts­ord­nung eta­bliert, das so­ge­nann­te "Mil­let-Sys­tem" (von arab. milla = Re­li­gi­ons­ge­mein­schaft). Das Mil­let-Sys­tem1 de­fi­nier­te und re­gel­te die recht­li­che Stel­lung von nicht-mus­li­mi­schen Ge­mein­schaf­ten, wobei der Mil­let-Sta­tus nur den so­ge­nann­ten "Re­li­gio­nen des Bu­ches", dem Ju­den­tum und Chris­ten­tum, zu­er­kannt wurde. Ge­prägt war die­ses Sys­tem von einer grund­le­gen­den Nicht-Gleich­stel­lung von Mus­li­men und Nicht-Mus­li­men in allen ge­sell­schaft­li­chen Be­rei­chen. Be­son­ders dras­ti­sche Aus­wir­kun­gen hatte dies im recht­li­chen Be­reich, da etwa die Zeu­gen­schaft von Nicht-Mus­li­men ge­gen­über Mus­li­men vor Ge­richt nicht an­er­kannt war. Au­ßer­dem war es Nicht-Mus­li­men im Ge­gen­satz zu Mus­li­men nicht er­laubt Waf­fen zu tra­gen. […]

Eine Ent­wick­lung der ar­me­ni­schen Ge­mein­schaft selbst konn­te unter den Re­strik­tio­nen des Mil­let-Sys­tem nur be­dingt statt­fin­den. Die ar­me­ni­sche Land­be­völ­ke­rung in den Pro­vin­zen des Os­ma­ni­schen Reichs war so­wohl der Ge­walt kur­di­scher Clans als auch der Will­kür von Groß­päch­tern aus­ge­setzt, denen das Land zu Ver­wal­tung an­ver­traut war.

Als im Jahr 1839 vor dem Hin­ter­grund der außen- und in­nen­po­li­ti­schen Krise des Reichs um­fas­sen­de Re­for­men an­ge­strebt wur­den (Tan­zi­mat = "Neu­ord­nung"), ge­hör­te dazu auch das Ver­spre­chen einer Gleich­stel­lung der Nicht-Mus­li­me mit den Mus­li­men. Damit be­gann eine Pe­ri­ode der Auf­klä­rung für die ar­me­ni­sche Ge­mein­schaft, ar­me­nisch Sar­thong ("Er­wa­chen"), die den Zeit­raum zwi­schen dem frü­hen 19. Jahr­hun­dert und der Ka­ta­stro­phe von 1915/16 be­stim­men soll­te. So war mit der Wende zum 19. Jahr­hun­dert in re­la­tiv kur­zer Zeit be­son­ders in Kon­stan­ti­no­pel eine Blüte des kul­tu­rel­len Le­bens ent­stan­den: Eine Mit­tel­schicht, die sich aus den Hand­werks­zünf­ten ent­wi­ckelt hatte, war ein­fluss­rei­cher ge­wor­den, auch ihre fi­nan­zi­el­le Kraft wuchs be­stän­dig. Die ar­me­ni­schen Ge­mein­den im Os­ma­ni­schen Reich ver­füg­ten um 1860 über ein dich­tes Netz von mehr als 70 Schu­len. Viele die­ser Schu­len, deren Zahl bis 1914 auf mehr als 1000 an­stieg, un­ter­rich­te­ten neben den Haupt­spra­chen Ar­me­nisch und Tür­kisch auch Ita­lie­nisch und Fran­zö­sisch. Es waren Mu­se­en ent­stan­den, Kul­tur­ver­ei­ne, öf­fent­li­che Bi­blio­the­ken, ein Kran­ken­haus. Eine Viel­zahl an Zei­tun­gen, die in engem Kon­takt mit Eu­ro­pa stan­den, be­son­ders mit Paris, be­rich­te­ten über die Be­dürf­nis­se und die Hoff­nun­gen der Ar­me­ni­er.

[…] Mit die­sem Pro­zess ging auch ein po­li­ti­scher Auf­bruch ein­her, der zu­vor­derst auf eine Mo­der­ni­sie­rung der tra­di­tio­nell re­li­gi­ös ge­präg­ten Ge­mein­schaft ziel­te. So er­ar­bei­te­ten die Ar­me­ni­er ein Ge­mein­de­sta­tut, das eine sä­ku­la­re Re­for­mie­rung der Ge­mein­de­struk­tu­ren ein­lei­ten soll­te. 1863 wurde sogar eine so­ge­nann­te "Na­tio­nal­ver­samm­lung" in­ner­halb der kirch­li­chen Mil­let-Struk­tu­ren er­rich­tet.

Vor dem Hin­ter­grund einer sich zu­se­hends ver­schlech­tern­den Si­tua­ti­on in den ar­me­ni­schen Sied­lungs­ge­bie­ten wur­den schließ­lich aber auch For­de­run­gen nach po­li­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­on und nach Schutz der Ge­mein­schaft vor Will­kür und Über­grif­fen durch die mus­li­mi­sche Be­völ­ke­rung for­mu­liert. Ge­tra­gen wur­den diese For­de­run­gen dabei zu­vor­derst von so­zia­lis­tisch ori­en­tier­ten Par­tei­en, die von Ar­me­ni­ern in Genf und Tif­lis ge­grün­det wor­den waren. Die gegen die Ge­walt­herr­schaft Sul­tan Ab­dül­ha­mids II. ge­rich­te­te Zu­sam­men­ar­beit die­ser Grup­pie­run­gen mit der jung­tür­ki­schen Op­po­si­ti­on, von der man sich dann nach der Re­vo­lu­ti­on im Jahr 1908 Eman­zi­pa­ti­on und Re­for­men er­hoff­te, soll­te sich je­doch als Ent­täu­schung er­wei­sen.

1 Das Mil­let-Sys­tem war eine re­li­gi­ös de­fi­nier­te Rechts­ord­nung im Os­ma­ni­schen Reich. An­ge­hö­ri­ge nicht-mus­li­mi­scher Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten hat­ten da­nach An­spruch auf den Schutz des Sul­tans. Vor­aus­set­zung war, dass sie Steu­ern ent­rich­te­ten. In­ner­halb der je­wei­li­gen Re­li­gi­ons­ge­mein­schaf­ten ver­füg­ten sie über ge­wis­se Rech­te, ei­ge­ne An­ge­le­gen­hei­ten selbst zu re­geln. An­er­kann­te Min­der­hei­ten waren ent­spre­chend ihrer Re­li­gi­ons­ge­mein­schaft in Mil­lets or­ga­ni­siert. Es gab im Os­ma­ni­schen Reich eine or­tho­do­xe Mil­let, ar­me­ni­sche Mil­lets und eine jü­di­sche Mil­let. Im 19. Jahr­hun­dert er­folg­te im Zuge der Tan­zi­mat-Re­for­men par­al­lel zum re­li­gi­ös be­grün­de­ten Mil­let-Sys­tem nun auch die recht­li­che Gleich­stel­lung aller os­ma­ni­schen Un­ter­ta­nen.

M2 Die „ar­me­ni­sche Frage“ im Os­ma­ni­schen Reich

Die „ar­me­ni­sche Frage“ […] war auf dem Ber­li­ner Kon­gress von 1878 erst­mals zum Thema der in­ter­na­tio­na­len Po­li­tik ge­wor­den. Der Kon­gress folg­te auf eine ka­ta­stro­pha­le os­ma­ni­sche Nie­der­la­ge gegen Russ­land. Das Os­ma­ni­sche Reich ver­lor große Teile des Bal­kans sowie drei Pro­vin­zen im süd­li­chen Kau­ka­sus.

Zudem wurde es ver­pflich­tet, in sei­nen Ost­pro­vin­zen Re­for­men zu Guns­ten der Ar­me­ni­er und deren Si­cher­heit durch­zu­füh­ren. Damit war die Lage der Ar­me­ni­er im Os­ma­ni­schen Reich zu einer in­ter­na­tio­na­len An­ge­le­gen­heit ge­wor­den. Dies wirk­te sich je­doch nicht als wirk­sa­me Ga­ran­tie für Re­for­men aus, son­dern rief den Hass po­li­tisch maß­geb­li­cher sun­ni­ti­scher Krei­se gegen die Ar­me­ni­er her­vor, da sie mit dem Aus­land im Bunde stän­den und pri­vi­le­giert seien. […]

Um das Reich zu er­hal­ten, setz­te der letz­te star­ke Sul­tan Ab­dül­ha­mid II. (im Amt 1876-1909) auf die Kraft mus­li­mi­scher Ein­heit. Sein Is­la­mis­mus ent­wer­te­te die Rechts­gleich­heit, die zu­sam­men mit os­ma­ni­scher Di­ver­si­tät den uto­pi­schen ideo­lo­gi­schen Kern der Tan­zi­mat aus­ge­macht hatte. Diese hatte re­li­gi­ons­über­grei­fen­de recht­li­che Gleich­stel­lung mit re­li­gi­ös-kul­tu­rel­ler Au­to­no­mie für die Juden und Chris­ten ver­bun­den. Nach­dem große Teile des Bal­kans ver­lo­ren ge­gan­gen waren, stärk­te Ab­dül­ha­mid ge­zielt die Mus­li­me Klein­asi­ens. […].

Die Jung­tür­ken setz­ten Ab­dül­ha­mid 1909 ab und er­rich­te­ten 1913 eine Dik­ta­tur ihres Ge­heim­ko­mi­tees. Sie hoff­ten wei­ter­hin auf die Er­hal­tung des Reichs, mach­ten sich aber ein An­lie­gen des da­mals jun­gen tür­ki­schen Na­tio­na­lis­mus (Tür­kis­mus) zu eigen, näm­lich aus Klein­asi­en, das heißt Ana­to­li­en, ein Türk Yurdu (Na­tio­nal­heim für Tür­ken) zu ma­chen. Die erste Phase der Grün­dung eines tür­ki­schen Na­tio­nal­staats fiel somit in den Ers­ten Welt­krieg, und damit so­wohl in des­sen ex­tre­me Bru­ta­li­sie­rung als auch über­spann­ten Er­war­tun­gen. Im Herbst 1914 hatte das jung­tür­ki­sche Re­gime dar­auf ge­setzt, durch den auf Sei­ten Deutsch­lands ge­führ­ten Krieg Ge­bie­te hin­zu­zu­ge­win­nen.

Hans-Lukas Kie­ser, Der Völ­ker­mord an den os­ma­ni­schen Ar­me­ni­ern, in: Corry Gutt­stadt (Hg.) Wege ohne Heim­kehr – Die Ar­me­ni­er, der Erste Welt­krieg und die Fol­gen, Ber­lin/Ham­burg 2014, S. 10f

 

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Wei­ter zu AB 2-4: Die Bal­kan­krie­ge