AB 3-4: Der Völkermord vor Gericht
Mit dem Waffenstillstand von Mudros am 30. Oktober 1918 ging auch für das Osmanische Reich der Erste Weltkrieg mit einer Niederlage zu Ende. Die Soldaten und Zivilbeamte des deutschen Bündnispartners mussten innerhalb eines Monats ausreisen. Am Tag darauf verließen mit Hilfe deutscher Militärs auch die wichtigsten Männer des besiegten Regimes das Land, unter ihnen Talaat Pascha, Enver Pascha und Cemal Pascha. Der ehemalige osmanische Innenminister und Großwesir Talaat traf am 10. November 1918 in Berlin ein. Mit seiner Ehefrau bezog er eine Wohnung im Stadtviertel Charlottenburg1. Die deutsche Regierung wusste um Talaats Anwesenheit. Sie hielt schützend die Hand über den Vertreter des früheren Bündnispartners. Auslieferungsgesuche der osmanischen Nachkriegsregierung wurden abgelehnt. Talaat Pascha wurde am 5. Juli 1919 in Istanbul in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Das Kriegsgericht in Istanbul hatte ihn und andere führende Politiker angeklagt, die am Völkermord an den Armeniern im Ersten Weltkrieg beteiligt gewesen waren. Doch zur Zeit des Prozesses lebte Talaat Pascha weiterhin in Berlin.
Am 15. März 1921 wurde Talaat Pascha, der ehemalige Großwesir des Osmanischen Reichs, auf der Berliner Hardenbergstraße, Ecke Fasanenstraße erschossen. Was sich hier ereignet hatte, war ein politisches Attentat, das Geschichte schrieb und unfreiwillig auch Rechtsgeschichte. Der Attentäter, auch das stellte sich schnell heraus, war der armenische Student Soghomon Tehlirjan. Er hatte Mehmet Talaat, der unter falschem Namen in einer Achtzimmerwohnung am heutigen Ernst-Reuter-Platz wohnte, wochenlang beobachtet und ihn nun mit einer 9-Millimeter Parabellum aus nächster Nähe in den Hinterkopf geschossen. Talaat befand sich seit Kriegsende in Berlin und zog von hier aus die Fäden der türkischen Nationalbewegung im Osten Anatoliens.
[…] Für die deutsche Politik bedeutete das Attentat vom 15. März 1921 jedoch eine delikate Angelegenheit. Nach wie vor beherrschte das Thema der Kriegsschuldfrage die internationale Debatte. […] Noch einmal war durch den Pistolenschuss des Armeniers Tehlirjan jetzt publik geworden, dass die deutsche Republik gesuchte türkische Kriegsverbrecher beherbergte, und die Gefahr war groß, dass bei diesem Prozess die Rolle der deutschen Regierung während des armenischen Völkermords öffentlich zur Sprache kommen könnte.
[…] Politischer Druck bewirkte, dass die Prozessdauer letztlich auf zwei Tage beschränkt wurde. Man wollte unter allen Umständen vermeiden, dass sich die Verhandlung in einen „politischen Mammutfall“ auswächst und „die ganze Frage der aus dem Kriege bereits unliebsam bekannten Armeniergreuel“ wieder zur Diskussion gestellt würden […].
Der Prozess begann am 2. Juni 1921 vor dem Landgericht Berlin-Moabit in der Turmstraße. Er endete, für viele überraschend, mit einem Freispruch. In den Augen der Geschworenen, der Zuschauer und der Presse war die Verhandlung durch das Geschick der Verteidiger und Gutachter nämlich in Wirklichkeit zu einer Verhandlung über die Taten des Opfers geworden. Der Verteidigung war es in dieser Stimmung gelungen, erfolgreich auf eine eingeschränkte Willensfreiheit des Angeklagten zum Zeitpunkt der Tat zu plädieren. […]
Tehlirjan konnte das Moabiter Landgericht, umarmt und beglückwünscht von Landsleuten, als freier Mann verlassen. „Obwohl die Verteidigung von Tehlirjan auf zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit plädierte“, kommentierte die New York Times diesen überraschenden Ausgang, „war seine wirkliche Verteidigung die entsetzliche Vergangenheit von Talaat Pascha, wodurch der Freispruch des Armeniers von der Anklage des Mords in deutscher Sicht zum Todesurteil für den Türken wurde.“ […]
Im Gerichtssaal saß auch ein junger, überzeugter Republikaner, der zu dieser Zeit in Berlin Jura studierte. Sein Name war Robert M. W. Kempner. Er würde später als verfolgter Jude in die USA emigrieren und bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen als Stellvertreter des amerikanischen Chefanklägers Robert H. Jackson international bekannt werden. […] Schon während des Prozesses gegen Tehlirjan wurde er mit jenem Problemfeld konfrontiert, das ihn nach 1945 in Nürnberg beschäftigen würde.
Der Pistolenschuss Tehlirjans und der folgende Prozess, schrieb er im Rückblick, führte der Welt zum ersten Mal ein völkerrechtliches Dilemma vor Augen, in dem sie sich während des Ersten Weltkriegs befunden hatte. In seinem formalen Verlauf hatte der Tehlirjan-Prozess zwar nicht dazu geführt, dass der Völkermord an den Armeniern auf die Agenda der Anklage gesetzt werden konnte. Es handelte sich schließlich um einen Strafprozess gegen einen Attentäter, der unzweifelhaft diese Tat begangen hatte.
Die ganze Verhandlung und die Art und Weise jedoch, wie sie öffentlich wahrgenommen wurde, hatte unfreiwillig - aber durchaus bedingt durch die formale Struktur eines Strafgerichtsprozesses, in dem auch die Tatmotive eine entscheidende Rolle spielen müssen - etwas von einem frühen Völkerrechtstribunal an sich. Im Vordergrund der Wahrnehmung stand nämlich weniger die Tat selbst als das Motiv des Täters und damit die Taten des Opfers. „Rechtspolitisch war dieser Prozess von besonderer Bedeutung“, meint deshalb Kempner, „weil zum ersten Mal in der Rechtsgeschichte der Grundsatz zur Anerkennung kam, dass grobe Menschenrechtsverletzungen, insbesondere Völkermord, begangen durch eine Regierung, durchaus von fremden Staaten bekämpft werden können und keine unzulässige Einmischung in innere Angelegenheiten eines anderen Staates bedeuten.“
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