AB 4-2: Die Erinnerung an den Völkermord an den Armeniern
Seit 100 Jahren ...
warten Armenier in der Türkei und weltweit vergebens auf die Anerkennung ihres Leids und die Übernahme der Verantwortung für die Verbrechen der osmanischen Regierung durch die Regierung des Landes.
Vor hundert Jahren,
während der Geschehnisse selbst, war die internationale Öffentlichkeit recht genau über den laufenden Völkermord informiert. Allein im Jahr 1915 berichtete die New York Times in 145 Artikeln über die Deportationen und Massaker. Obwohl der Begriff „Völkermord" (Genozid) damals im Völkerrecht noch nicht existierte, formulierten Depeschen deutscher und amerikanischer Diplomaten sowie Berichte von Juristen und Politikern zahlreicher Länder eindeutig, was im Osmanischen Reich vor sich ging: die Auslöschung des armenischen Volkes. Bereits Ende Mai 1915 protestierten die Regierungen der Entente1 in einer gemeinsamen Note an die osmanische Regierung gegen die an den Armeniern verübten „crimes against humanity" und kündigten eine Bestrafung der Schuldigen an.
Nach Kriegsende richtete die osmanische Regierung 1919 — auch unter dem Druck der Alliierten — Sondergerichtshöfe ein, die etwa 70 Strafverfahren gegen Politiker und an den Massakern Beteiligte einleiteten. Mehrere Angeklagte erklärten explizit, dass sie Befehle zur „Auslöschung der Armenier" erhalten hatten. Die Gerichte verhängten zwanzig Todesurteile, von denen drei vollstreckt wurden. Ein Gesetz von 1920 sah die Rückgabe des geraubten armenischen Besitzes an die Eigentümer vor.
Die Armenier Istanbuls führten Gedenkveranstaltungen für die Deportierten durch. Im April 1919 errichteten sie in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul ein Mahnmal für die armenischen Opfer. Der armenische Autor Teotig, selbst Überlebender der Deportationen, rekonstruierte in dem Gedenkbuch HUARTSAN die Lebensdaten und Todesumstände von mehreren Hundert der deportierten armenischen Intellektuellen. Armenische und internationale Hilfsorganisationen kümmerten sich um die ungezählten armenischen Waisen, die ihre Eltern während der Deportationen verloren hatten.
Die Fakten und Folgen des Völkermords waren offenkundig. Im osmanischen Parlament und in verschiedenen Zeitungen verurteilten auch mehrere muslimisch-türkische Politiker die Verbrechen in klaren Worten.
Der „Befreiungskampf"
Doch diese Entwicklung war von kurzer Dauer. Ab 1919 organisierte sich in Anatolien eine türkisch-nationalistische Bewegung, deren Führung bald Mustafa Kemal [Atatürk] übernahm.
Obwohl die jungtürkische Regierung das Reich mit expansionistischen Zielen in den Krieg geführt hatte (und türkisch-muslimische Truppen noch im Sommer 1918 bis nach Baku2 vorgestoßen waren), sah die Bewegung die Türken/ Muslime als „Opfer" des Krieges und definierte sich als „Verteidigungsbewegung".
Tatsächlich hatte das Osmanische Reich im Krieg enorme Opfer zu verzeichnen und sämtliche arabischen Gebiete an England und Frankreich verloren. Der von den Siegermächten diktierte Friedensvertrag von Sèvres verknüpfte auf fatale Weise eine Kompensation der Armenier durch die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates (und eine mögliche kurdische Autonomie) mit den Begehrlichkeiten der europäischen Mächte, die auch weite Teile Anatoliens als „Einflussgebiete" untereinander aufgeteilt hatten.
Daher gilt der folgende Krieg von 1919-1922 in der türkischen Geschichtsschreibung als „antiimperialistischer" nationaler Befreiungskampf. De facto richtete er sich jedoch in erster Linie gegen Armenier und Griechen. Auslöser für den bewaffneten Kampf waren zum einen der Vormarsch griechischer Truppen in Westanatolien (der Waffenstillstandsvertrag hatte ihnen lediglich die Besetzung eines Gebietes um Izmir zugestanden), die Rückkehr überlebender Armenier als Teilnehmer bzw. im Schutz französischer Besatzungstruppen in Kilikien und die vorgesehene Gründung eines armenischen Staates im Nordosten Anatoliens. Sowohl in Kilikien als auch in den östlichen Provinzen kam es erneut zu Massakern an armenischen Zivilisten, die als Fortsetzung des Völkermords angesehen werden können.
Viele Muslime, die sich am Eigentum der vertriebenen und ermordeten Armenier und Griechen bereichert hatten, unterstützten die Nationalbewegung aus konkreten, materiellen Beweggründen und aus Angst vor einer möglichen Rückkehr der Vorbesitzer. Mit anderen Worten: Der „Befreiungskrieg" diente der Zementierung der Vertreibung und der Verteidigung der „Gewinne" des Völkermords.
Zu den ersten Maßnahmen der sich in Ankara konstituierenden Nationalregierung gehörten das Verbot der Rückkehr während des Völkermords geflohener Armenier, die Aufhebung des Gesetzes zur Rückgabe armenischen Eigentums und eine allgemeine Amnestie auch der verurteilten Kriegsverbrecher. Türkisch-muslimische Politiker, die in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg die Verbrechen öffentlich kritisiert und eine Bestrafung der Täter gefordert hatten, wurden als Verräter angegriffen, verfolgt und einige gelyncht.
In der internationalen Konjunktur der 1920er Jahre ließen die Großmächte die Ansprüche der Armenier und die Frage einer Bestrafung der für den Genozid Verantwortlichen fallen.
Der nachträgliche Sieg der Ittihadisten
Die Gründung der Republik Türkei im Oktober 1923 kann so als später Sieg der Ittihad ve Terakki3 angesehen werden. Der Vertrag von Lausanne vom Juli 1923 segnete sowohl die Ergebnisse des Völkermords als auch die Vertreibung der anatolischen Griechen nachträglich ab. Die bis 1950 alleinige Regierungspartei CHP ist im Kern als Nachfolgeorganisation aus der Ittihad ve Terakki hervorgegangen. Zahlreiche für den Völkermord Verantwortliche übernahmen Regierungsämter und zentrale Posten in der CHP (Republikanische Volkspartei).
Die Tatsache, dass der Gründungskongress der türkischen Nationalbewegung im Juli 1919 in Erzurum in dem armenischen Sanasaryan-Lyzeum stattfand, das nach der Deportation der Armenier beschlagnahmt worden war, und dass sich der Präsidentenpalast der Türkei in Cankaya in einer armenischen Villa befindet, dessen Besitzer vertrieben und enteignet wurden, hat mehr als symbolischen Charakter. Die Republik Türkei gründete sich auf die mittels Vertreibung und Auslöschung der Christen erfolgte Türkisierung Anatoliens und führte diese Politik fort: „Dieses Land gehört euch, den Türken. Dieses Vaterland war in der Geschichte türkisch, es ist türkisch und wird immer türkisch bleiben. Es ist nun wieder in die Hände seiner eigentlichen Besitzer zurückgekehrt, Armenier oder andere haben hier keinerlei Rechte", erklärte Mustafa Kemal 1923 in Adana.
Die überlebenden Armenier waren in der Türkei zahlreichen Beschränkungen unterworfen, sie wurden aus der Wirtschaft und zahlreichen Berufen verdrängt, elementarer Rechte wie der Freizügigkeit, Meinungs- und Organisationsfreiheit beraubt, zahllose ihrer Kulturbauten, Friedhöfe und Schulen wurden zerstört. Nach der Auslöschung der armenischen Bevölkerung sollte auch ihre Geschichte ausradiert werden, die Namen von Dörfern und Städten wurden türkisiert. Überall wurden Straßen, Stadtteile und Schulen nach den Mördern benannt.
Internationale Schriften, die den Völkermord oder nur die Geschichte Armeniens erwähnten, wurden verboten, ihre Einfuhr verhindert. […] Den Armeniern in der Türkei war es nicht nur verwehrt, öffentlich ihrer Opfer zu gedenken. Der Preis ihres Verbleibens in der Türkei war das Bekenntnis zur offiziellen Leugnung und damit der Verleugnung ihres eigenen Schicksals. […]
Der Beginn der Kampagne zur Leugnung
[…] Zum internationalen Thema wurde der armenische Völkermord erst wieder während der 1970er und 1980er Jahre. Mitte der Siebzigerjahre brachten Attentate militanter Armenier gegen türkische Diplomaten in verschiedenen Städten der Welt das Thema erneut in die Schlagzeilen. In den Achtzigerjahren entwickelte sich schließlich, angeregt durch die Holocaustforschung, vor allem in den USA und in Frankreich eine wissenschaftliche Forschung zum Armeniergenozid.
Auf die beginnende internationale Thematisierung des Armeniergenozids reagierte die Türkei mit einer Propagandakampagne. Diplomaten und Beamte des Außenministeriums, wie Kamuran Gürün und Bilal Simsir, Angehörige des Militärs sowie auch Wissenschaftler verfassten ab Mitte der 1980er-Jahre Publikationen, die der Widerlegung der Völkermordgeschichte dienen sollen.
Im Kern wiederholen die meisten dieser Werke die bereits von den Jungtürken während des Krieges oder in den Jahren 1919-1923 aufgestellten Thesen: Die Armenier hätten als Handlanger der Imperialisten agiert, weil sie sich zur Durchsetzung ihrer Forderungen nach Schutz vor Übergriffen an die europäischen Großmächte gewandt hatten; sie hätten sich als Verräter betätigt und seien zu den Russen übergelaufen; die Deportationen seien kriegsnotwendig gewesen.
Die Zahlen der armenischen Opfer wurden bestritten und den türkisch-muslimischen Kriegsverlusten, insbesondere den muslimischen Opfern von Vertreibungen vom Balkan und aus dem Kaukasus, gegenübergestellt. Einige Publikationen versteigen sich zu der Behauptung, in Wahrheit seien die Türken/ Muslime Opfer eines von Armeniern geplanten Genozids gewesen.
Die Leugnung beschränkt sich nicht auf ein Abstreiten oder eine Relativierung der Fakten und die Weigerung, sich mit der eigenen Geschichte und Verantwortung auseinanderzusetzen. Armenier werden erneut als Feinde und Verräter bezichtigt, wobei nun auch die Forderung der Anerkennung des Völkermords (vor allem seitens außerhalb der Türkei lebender Armenier) als weiterer Beweis ihres „Verrats" gewertet wird. […]
Gleichzeitig begannen türkische Stellen auch international Propaganda zu betreiben: Traktate zur Leugnung des armenischen Genozids wurden an Universitäten und politische Institutionen in etlichen Ländern verschickt. Sobald irgendwo die auf der Welt die Frage des Armeniergenozids thematisiert wurde, traten türkische Diplomaten oder den Botschaften verbundene Organisationen auf den Plan, um dies zu verhindern. Sie versuchten die Tagesordnung wissenschaftlicher Genozidkonferenzen abzuändern, die Ausstellung des staatlichen Holocaustmuseums in Washington zu zensieren, Einfluss auf die Gestaltung von Lehrplänen und Schulbüchern zu nehmen. Allzu oft mit Erfolg. Aufgrund militärischer oder politisch-wirtschaftlicher Interessen wollten viele Regierungen eine Brüskierung der Türkei vermeiden.
Die türkische Zivilgesellschaft durchbricht das „Tabu Armenien"
Während der 1990er Jahre begannen sich auch türkische Oppositionelle mit dem Schicksal der Armenier zu befassen, wozu ganz verschiedene Faktoren beitrugen: Die Erfahrungen des Militärputsches sowie das Erstarken der kurdischen Bewegung führten zu einer Infragestellung des Kemalismus, den gerade Intellektuelle der politischen Linken bis dahin mehrheitlich als „fortschrittlich" verteidigt hatten. Dieser Paradigmenwechsel schlug sich in einer umfangreichen kritischen Forschung zur türkischen Geschichte und der Situation der Minderheiten in der Türkei nieder. […]
Parallel dazu bekam unter dem Eindruck der Genozide in Bosnien (1993) und Ruanda (1994) die Genozidforschung international stärkere Bedeutung. An verschiedenen Orten entstanden Institute oder Zeitschriften zur Genozidforschung, die sich auch mit dem armenischen Völkermord befassten. Zahlreiche Staaten und überstaatliche Institutionen beschäftigten sich mit dem Armeniergenozid und verabschiedeten entsprechende Resolutionen — auch wenn mehrere Länder/Institutionen aus Rücksicht auf die Türkei das Wort „Genozid" vermieden.
1 Entente: gemeint ist das Bündnis zwischen England, Frankreich und Russland.
2 Hauptstadt von Aserbaidschan
3 Komitee für Einheit und Fortschritt (Ittihat ve Terraki – ihre Vertreter werden mitunter auch Unionisten genannt, nach der angelsächsischen Bezeichnung Committee of Union and Progress C.U.P.)
Eine der jungtürkischen Geheimgesellschaften wurde 1889 unter dem Namen Komitee der Osmanischen Einheit gegründet. Anfang des 20. Jahrhunderts entstand eine breite und uneinheitliche jungtürkische Opposition gegen Sultan Abdülhamid II. In dieser Zeit bildete sich auch das Komitee für Einheit und Fortschritt heraus, das bei der jungtürkischen Revolution von 1908 eine entscheidende Rolle spielte. Zunächst schien das Komitee für Einheit und Fortschritt an den religionsübergreifenden Patriotismus der Tanzimat-Zeit anzuknüpfen. Doch dann setzten sich die Exponenten einer nationalistischen Ausrichtung durch. Anfang 1913 erlangten die Mitglieder des Zentralkomitees für Einheit und Fortschritt im Zuge eines Putsches eine Vormachtstellung. Viele von ihnen stammten aus Regionen, die das Osmanische Reich in den vergangenen Kriegen verloren hatte.
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