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AB 4-7: Interview mit Prof. Barth

Herr Professor Barth, wie kann man einen Genozid definieren?

Eine eindeutige Definition ist schwierig. Der Begriff „Genozid“ ist ein Kunstwort, geprägt von Raphael Lemkin im Jahr 1944 im Zusammenhang mit dem Holocaust. Lemkin hielt den Begriff „Gräueltat“ für das, was sich in Auschwitz abgespielt hat, für nicht angemessen und hat nach einem Begriff gesucht, der die industrielle Ermordung von Menschen umfasst. Der Begriff hat sich dann sehr schnell durchgesetzt, was zeigt, dass die internationale Öffentlichkeit die Auffassung Lemkins teilte.

Ab wann kann man von einem Genozid sprechen?

Insgesamt herrscht in dieser Frage ein wenig Verwirrung. In Deutschland wird der Begriff „Genozid“ gleichbedeutend mit „Völkermord“ verwendet. In den USA ist das aber ganz anders. Dort ist es durchaus möglich, auch von „genocide“ zu sprechen, wenn eine Minderheit unterdrückt wird oder wenn in der Sowjetunion Synagogen zerstört worden sind. Dies sorgt auf internationaler Ebene für einige Verwirrung. Tatsächlich würde ich dafür plädieren, von einem engen Genozid-Begriff auszugehen, so wie es im Deutschen üblich ist.

Es gibt ja die UN-Konvention zum Genozid. Könnte deren Definition nicht als Orientierung dienen?

Das ist ein guter Vorschlag, nur muss man bedenken, dass auch diese Definition in einem historischen Umfeld zustande gekommen ist. Als die Definition in der Diskussion stand, konnte man sich nur auf rassische, nationale, ethnische und religiöse Verfolgung einigen. Dass dabei die politische Verfolgung nicht berücksichtigt ist, liegt am Veto der stalinistischen Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein zweiter Diskussionspunkt ist die Formulierung der Vernichtung „in whole or in part“; hier ist eine genaue Festlegung davon, was teilweise bedeuten soll, schlicht unmöglich. Stellen Sie sich vor, als Grenze zum Völkermord gälte die Vernichtung von 10% einer Ethnie – dann würde sich ein Diktator, der 8% eines Volkes vernichtet hat, damit brüsten, dass die Verluste durchaus im Rahmen lägen.

Welche historischen Genozide würden Sie als eindeutig bezeichnen?

Es gibt drei Fälle, bei denen es sich ganz zweifellos um einen Völkermord handelt. Neben der Shoah würde ich unbedingt den Völkermord an den Armeniern und Aramäern 1915/16 nennen sowie die Ereignisse in Ruanda 1994. Da ist sich die Fachwelt auch völlig einig. Etwas weniger eindeutig verhält es sich bei der Vernichtung der Herero in Deutsch-Südwest zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei den Khmer Rouge in Kambodscha oder bei gewissen stalinistischen Verbrechen.

Was sind die entscheidenden Kriterien für einen Genozid?

Zentral ist, dass eine Regierung von Beginn an die Vernichtung eines Volkes plant. Diese Vernichtungsintention ist viel entscheidender als die tatsächliche Vernichtung (sei es in absoluten Zahlen oder anteilig zur Gesamtbevölkerung). Diese Vernichtungsabsicht lag im Osmanischen Reich seitens der jungtürkischen Regierung spätestens seit April 1915 vor. Da ist es auch nicht entscheidend, dass es kein sog. „Schlüsseldokument“ gibt (das gibt es beim Holocaust ja auch nicht).

Welche Rolle spielt eine Eigendynamik in so einem Geschehen?

Es ist sehr wohl möglich, dass sich eine verselbständigende Dynamik in einem genozidalen Prozess entfaltet. Die Nationalsozialisten hatten 1939 noch keinen genauen Plan zur vollständigen Ausrottung der Juden gefasst. Dieser entstand in der Dynamik des Ostkrieges. Es gibt auch Hinweise, dass die Spezialorganisation von den Jungtürken auch zunächst dafür vorgesehen war, an der ägäischen Mittelmeerküste gegen die dort ansässigen Griechen eingesetzt zu werden. Doch war sie von Talat Pascha für Aufgaben konzipiert worden, für die die sichtbaren staatlichen Organe nicht geeignet sind.

Lassen sich verschiedene Genozide miteinander vergleichen? Was wären Kriterien hierfür?

Der historische Vergleich ist eine zentrale historische Methode, mit der ein Historiker eigentlich immer arbeitet, um zu Erkenntnissen zu kommen. Dabei geht es nicht darum, ein historisches Geschehen zu relativieren – das war ja der zentrale Vorwurf beim Historikerstreit in den 80er-Jahren –, sondern darum, historisches Geschehen miteinander zu vergleichen. Nichts soll heruntergespielt werden, sondern bestimmte Parameter dienen dazu, einen klaren Blick auf die Zusammenhänge zu erhalten.

Was heißt das konkret für einen Vergleich zwischen Shoah und Armenier-Genozid?

Die Nationalsozialisten waren sicher viel besessener im Vernichtungsprozess als die Türken, in der Umsetzung viel perfekter, auch wenn der Ausdruck in diesem Zusammenhang schwierig ist. In beiden Fällen stand aber eine Ideologie hinter den Taten: einmal die rassistisch-biologistische der Nationalsozialisten, einmal eine teils religiös motivierte, teils nationalistische Weltsicht, die bei genauem Hinschauen gar nicht so weit von der Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis entfernt ist. Einer der Hauptideologen des türkischen Nationalismus, Ziya Gökalp, spricht zum Beispiel davon, dass man als „guter Gärtner“ gezwungen sei, bestimmte „Pflanzen auszureißen“.

Gibt es einen „typischen“ Ablauf eines Genozids?

Der erste Schritt ist die Stigmatisierung. Ein Regime will eine Gruppe von Menschen loswerden, d.h. nicht unbedingt umbringen, sondern loswerden – es gibt ja auch ethnische Säuberungen, die nicht in einen Völkermord ausarten. Hinzu kommt als weiteres Element ein gewaltbereiter Rassismus, bei dem die Opfergruppe entmenschlicht wird. Wenn Sprachbilder wie das von „Ungeziefer“ oder „Kakerlaken“ auf staatlicher Ebene für Menschen benutzt werden (so geschehen beim Völkermord in Ruanda), sollte man das als Warnsignal verstehen: Hier kann sich ein Völkermord anbahnen. Das ist keine hinreichende Bedingung, aber wie gesagt ein Warnsignal.

Gibt es ein Muster beim Übergang vom Gedanken zur Tat?

Völkermörder wissen, dass sie einen Tabubruch begehen. Deshalb versuchen sie den Völkermord in aller Heimlichkeit zu begehen. Das ist ein eindeutiger Beleg dafür, dass ihnen bewusst ist, was sie tun. Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Ein Völkermord ist öffentlich. Man kann nicht Tausende, Zehntausende oder Hunderttausende von Menschen umbringen, ohne dass es bemerkt wird. Einzelne Details können heimlich passieren, aber wenn man hinschauen will, kann man es sehen. Sowohl für das Osmanische Reich als auch für den Holocaust und natürlich auch für Ruanda haben wir zahllose Hinweise.

Welche Rolle spielt der Krieg bei einem Genozid?

Der Krieg erleichtert die Durchführung eines Genozids: Bewaffnete Einheiten sind schon präsent und im Krieg ist es leichter, etwas zu verheimlichen. Im Krieg sind die Menschen auch leichter bereit, besondere Härten hinzunehmen – der berüchtigte Satz von Hitler, wer denn noch an die Armenier denke, fiel unmittelbar vor dem Polenfeldzug, einer Situation, in der er seine Generäle auf besondere Härten einschwören wollte. Aber auch hier gilt wieder: Der Krieg ist keine notwendige Bedingung für einen Genozid.

Wie denkt jemand, der einen Völkermord begeht?

Das ist ein Perspektivwechsel, den ich mir und den Lesern eigentlich nicht zumuten will. Man muss da sehr vorsichtig sein. Ein gemeinsames Charakteristikum von Völkermördern ist vielleicht ein technokratischer Planungswahn und dazu ein eiskalter, berechnender Verstand. Die Absicht und der Traum, etwas völlig Neues zu erschaffen, treffen sich mit einem ahumanistischen und rassistisch geprägten Menschenbild, das keine Skrupel vor sog. notwendigen Opfern hat. Bei den Nationalsozialisten ist uns diese Haltung und Ideologie nur zu gut bekannt, doch auch bei den Jungtürken gab es den panturanistischen Traum vom neuen großtürkischen Reich, bei dem die Armenier im Weg waren.

Herr Prof. Barth, haben Sie vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview führte Dieter Grupp mit Prof. Boris Barth im Januar 2017.

 

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