M3.3 – M3.6: GA Aufgaben für die Gruppen 1-4
Gruppe 1: Dorothee Sölle: Ichverlust und Erfolg
Was bedeuten Ichlosigkeit und Ledigwerden im Zusammenhang eines heutigen mystischen Weges, der sich als Widerstand ausdrückt? Dass der Weg des bewussten Widerstands von der Ichbesessenheit, die die globalisierte Produktion als Partnerin braucht, zur Ichlosigkeit führen muss, ist in Begriffen wie Askese, Konsumverzicht, Reduktion des Verbrauchs, einfacheres Leben schon angedeutet. Was fehlt, ist ein Nachdenken, das unsere eigene Verflochtenheit mit dem wirtschaftlich erwünschten Ego der Verbraucher und Benutzer deutlicher macht. Ich will das an einer Frage verdeutlichen, mit der sich jede non-konforme Gruppe, jede kritische Minderheit, die zum anderen Leben beitragen will, auseinandersetzen muss, es ist die Frage nach dem Erfolg.
Bewertet werden Entscheidungen über mögliches Handeln, innerhalb der vom Marktdenken beherrschten Welt unter einem einzigen Kriterium, dem des Erfolgs. Ist es jetzt notwendig, bestimmte Formen des Konsums zu boykottieren, Atommülltransporte zu blockieren, von Abschiebung bedrohte Flüchtlinge zu verstecken oder pazifistischen Widerstand gegen weitere Militarisierung zu leisten? Wo immer solche Überlegungen auftauchen, da werden Fragen gestellt wie: Welchen Sinn hat dieser Protest, ist nicht alles längst entschieden? Lässt sich daran noch etwas ändern? Was wollt ihr damit schon erreichen? Und wen? Wer sieht das schon? Wer sendet es? Wie öffentlich wird es? Ich bin ja auch eurer Meinung, sagen viele hilflos-traurig, nur nützt diese — symbolische oder reale - Aktion doch nichts gegen die geballte Macht der anderen! »Bilden Sie sich im Ernst ein, dass das Erfolg haben kann?« Solche Fragen nähren Zweifel an der Demokratie, aber noch mehr verunsichern sie die Parteilichkeit für das Leben selber. Hinter ihnen lauert ein Zynismus, der zeigt, wie eingebunden das Ich an die Machtverhältnisse ist.
Martin Buber hat gesagt: »Erfolg ist kein Name Gottes.« Nichts mystischer, nichts hilfloser als das! Das Nichts, das alles werden will und uns braucht, kann in den Kategorien der Macht nicht benannt werden. (Darum ist der »allmächtige« oder omnipotente Gott eine so männlich-hilflose, verantwortungsfreie, antimystische Metapher!) Das Ich loslassen heißt unter anderem, den Zwang zum Erfolg hinter sich zu lassen. Es heißt »hingehen, wo du nichts bist«, und ohne diese Gestalt der Mystik verläuft sich der Widerstand und stirbt vor unsern Augen. Nicht, dass das Herstellen von Öffentlichkeit, das Gewinnen von Mittätern, die Veränderung der Akzeptanz keine Rolle spielte. Aber das letzte Kriterium der Beteiligung an widerständigem, an solidarischem Verhalten kann nicht der Erfolg sein, das hieße, immer noch nach der Melodie der Herren dieser Welt zu tanzen.
Aufgaben für die Gruppen 1-4
- Erklärt anhand Eures Textes, welche anderen Wertsetzungen die „mystische Tradition“ besitzt und auch lebt.
- Diskutiert in der Gruppe, inwieweit solche alternativen Wertsetzungen plausibel sind bzw. welche Konsequenzen sie bedeuten.
- Vergleicht Sölles Ideen aus Eurem Text mit dem, was Ihr aus der mystischen Tradition des Islam erfahren habt (M3.2, Karimi) und haltet Parallelen und Unterschiede fest.
- Bereitet Euch darauf vor, Eure Ergebnisse und Diskussionsinhalte im Plenum zu präsentieren.
Gruppe 2: Dorothee Sölle: Trotz der Ichlosigkeit
Ichlos werden, ledig, frei heißt auch, den Agenten der Macht in uns wegzuschicken, der uns von der Aussichtslosigkeit des Unternehmens, der Übermacht der Institutionen überzeugen will. Ledig werden heißt auch, das Verhältnis von Erfolg und Wahrheit zu korrigieren.
Ich will das an meinen eigenen Erfahrungen in den Jahren der Friedensbewegung erläutern. In einer gewissen Naivität nahm ich an, die Fragen, die Journalisten mir stellten, seien vom Interesse an der Wahrheit geleitet. Ich fand es wichtig, zu wissen, ob bestimmte Atombomben als Verteidigungswaffen überhaupt zu gebrauchen wären — und nicht ausschließlich zum Ersteinsatz, zur vorauseilenden Vernichtung! Mir waren Zahlen wichtig, die die Kosten von Aufrüstung bekanntmachten und sie ins Verhältnis setzten, zu den Schulen oder Kinderkliniken, die sich mit dem Geld einrichten ließen. Ich dachte, es bestünde ein Zusammenhang zwischen Aufrüsten und Verhungernlassen, den wir sichtbar machen sollten. Ich nahm an, auch die mich Befragenden hätten ein Interesse an dieserart oft verschwiegenen Wahrheiten.
Es dauerte Jahre, bis ich begriff, dass das Interesse der Mehrzahl der Medienvertreter ein ganz anderes war. Sie wollten nicht wissen oder verbreiten, wer die Opfer der Aufrüstung sind, sie betrachteten die Protestierenden nur unter dem Gesichtspunkt der Einschaltquoten. Das Interesse am Erfolg - Wer sind Sie denn überhaupt? Wen oder was repräsentieren Sie? — hatte das an der Wahrheit zunehmend verdrängt. Die Versuche, das Interesse an der Wahrheit wieder zu erwecken, die Opfer sichtbar zu machen, statt sich bewusstlos an den Gewinnern zu orientieren, hatten wenig Chancen. Die Entmutigung durch jahrelange Erfolglosigkeit in den großen Bewegungen für einen nicht auf mehr Waffen gebauten Frieden, für wirtschaftliche Gerechtigkeit und Solidarität und für die Bewahrung der Schöpfung ist ein Faktum, bitter und unübersehbar.
Können wir das, was Bonhoeffer »dem Rad in die Speichen fallen« nannte, heute überhaupt noch tun? Die Mystik der Ichlosigkeit hilft mir dabei, mit den Niederlagen Gottes in unserer Welt umzugehen. Das Ich loszuwerden heißt, die Wahrheit nicht dem Erfolgsdenken zu opfern. Ledig werden bedeutet, den Erfolg nicht für die letzte Kategorie zu halten. Ein italienischer Mystiker des 14. Jahrhunderts, früher ein reicher Tuchhändler, ließ sich mit seinen Gefährten gefesselt unter Schlägen und Beschimpfungen durch die Straßen treiben, in denen er früher sein Geld gemacht hatte; ganz wie Christus für uns als ein Irrer galt, so wollten auch diese Gottesfreunde als Narren und Blöde, »pazzi e stolti«, angesehen werden (Dinzelbacher, 1994, 364).
Etwas von dieser Narrenhaftigkeit steckt auch heute in vielen Formen des inszenierten Widerstands. Frauen, die an Mahnwachen für gefolterte Gefangene teilnahmen, werden angepöbelt oder beschimpft. Frei zu werden von den Zwängen des Erfolg-haben-Müssens ist ein mystischer Kern, der keineswegs immer bewusst ist, aber gerade im Trotz des Weitermachens aufscheint. Der in der Anti-atomkraftbewegung auftauchende Spruch » Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt« hat etwas von diesem Trotz der Ichlosigkeit. Frömmer spricht ihn ein chassidischer Rabbi aus, der im Gebet verharrend sagte: »Und willst du Israel noch nicht erlösen, so erlöse doch die Gojim allein!« (Buber, 1996, 286)
Aufgaben für die Gruppen 1-4
- Erklärt anhand Eures Textes, welche anderen Wertsetzungen die „mystische Tradition“ besitzt und auch lebt.
- Diskutiert in der Gruppe, inwieweit solch alternative Wertsetzungen plausibel sind bzw. welche Konsequenzen sie bedeuten.
- Vergleicht Sölles Ideen aus Eurem Text mit dem, was Ihr aus der mystischen Tradition des Islam erfahren habt (M3.2, Karimi) und haltet Parallelen und Unterschiede fest.
- Bereitet Euch darauf vor, Eure Ergebnisse und Diskussionsinhalte im Plenum zu präsentieren.
Gruppe 3: Besitzlosigkeit (292f.)
Von Jesus sagt ein Mystiker der Sufi, er sei auf seiner Pilgerschaft von weltlichen Dingen so abgelöst gewesen, »dass er nur einen Becher und einen Kamm mit sich führte - doch den Becher warf er hinweg, als er einen Mann aus seiner Hand trinken sah, und den Kamm, als er einen anderen Mann seine Finger statt eines Kammes benutzen sah« (Schimmel, 1992, 32). Die Geschichte weist, verrückt genug, auf den nicht endenden Prozess hin, der vom Besitz zur Besitzlosigkeit führt, und die Geste des Wegwerfens ist eine, die etwas von Befreiung und von Schönheit erzählt. Mich erinnerte sie an einen mittleren Angestellten aus dem Schwarzwald, der mir schrieb, dass er sein Auto »weggeworfen« habe, nachdem er sich über das Waldsterben informiert hätte. Er brauche nun fast dreimal so lange, um zur Arbeit zu kommen, fühle sich aber freier als zuvor. Der Brief dieses mir Unbekannten hatte eine Art von unbeholfener Schönheit.
In vielen religiösen Traditionen wird Besitz als der Seele schädlich angesehen und Armut als ein Ideal gepriesen, Besitzlosigkeit, faqr, wie sie bei Rumi heißt, »ein starker Arzt«; sie ist »eine Amme«, die das Menschenkind nährt und erzieht; sie ist auch die »Heimat aller Schönheit« (Schimmel, 1990, 138f.). Was bedeutet dieses befremdliche Loblied der Besitzlosigkeit; warum werden in der Bergpredigt die Armen jetzt, nicht in einem Jenseits, seliggepriesen, und aus welchen Gründen soll der Besitz eines Gebrauchsgegenstandes wie Kamm oder Auto schädlich sein?
Besitz erscheint oft wie eine Art lebensgefährlicher Droge, sie schwächt die Urteilskraft. »Faulheit und Feigheit«, so sieht es Willam James (1979, 320f.), »schleichen sich mit jedem Dollar und jeder Guinee, die wir zu bewachen haben, ein.« Haben trägt dazu bei, das Ich abhängig zu machen. Im Haben toter Dinge gleicht es sich dem Totsein an. Besitz besetzt die Besitzer und widerspricht dem Ideal des Ledigwerdens. Selbst Iebenserleichternde Dinge des täglichen Gebrauchs werden als eine Art Verführung betrachtet - zu der Besitzermentalitat und der Existenzweise des Habens, die im Buddhismus als Gier, in der indischen und christlichen Tradition als Hab-Sucht bezeichnet wird.
Dem Besitzenwollen haftet ein progredierendes, ein gefräßiges Element an, das sich im simplen Mehr-haben-Wollen ausdrückt, aber auch in einer wachsenden Abhängigkeit von Konsumgewohnheiten, ohne die Menschen nicht mehr auskommen wollen. Das Ich verliert dabei seine freundliche Distanz zu den zu benutzenden Dingen und wird vom Besitzwunsch beherrscht, der sich rasch auch auf ganz andere Lebensbeziehungen auswächst. Partner, Angehörige und Freundinnen werden als zu Besitzende, ihre Zeit zur Verfügung stellende Objekte angesehen. Die Besitzbeziehung, die ein totales Verfügungsrecht über den Gegenstand als selbstverständlich annimmt, breitet sich aus. Genuss und Lust vernebeln nämlich jedes klare Urteil, weil, wie Johannes vom Kreuz sich ausdrückt, »es nun einmal keinen willentlichen Genuss an einer Kreatur gibt, ohne diese auch gleich besitzen zu wollen« (Joh. v. K., 202). Wollen oder Begehren, Wissen oder Verfügen, Haben oder Besitzen stehen unter einem Zusammenhang, der Herrschaft heißt.
Meister Eckhart nennt in seiner berühmten Armutspredigt über die erste Seligpreisung (Quant, 1969, 303 66 ) drei Bedingungen der »inneren Armut«: das Nichts-Wollen, das Nichts-Wissen und das Nichts-Haben. Alle drei Gestalten der mystischen Armut sind auf das Nichts bezogen, dessen konkrete Gestalt und wichtigste Metapher in der christlichen Mystik das Nacktwerden ist. Dieses Nichts ist das, was mich weder binden noch beherrschen kann. Nichts haben bedeutet soviel wie, über nichts als Herrscherin zu verfügen. Der (philosophisch naivere) Verfasser der »Wolke des Nichtwissens« sagte im Zusammenhang dieser Entbildung:
»Lass nicht ab und bleibe immer in diesem ›Nichts‹. Verlange nur nach einem: Gott in Liebe zu umfangen, den niemand durch Erkennen erfassen kann. Ich möchte lieber in diesem Nirgendwo sein und um dieses dunkle ›Nichts‹ ringen als ein großer Herr sein, der überall herumreisen kann, um die Welt als sein Eigentum zu genießen.« (Wolke, 68. Kap.)
Aufgaben für die Gruppen 1-4
- Erklärt anhand Eures Textes, welche anderen Wertsetzungen die „mystische Tradition“ besitzt und auch lebt.
- Diskutiert in der Gruppe, inwieweit solche alternativen Wertsetzungen plausibel sind bzw. welche Konsequenzen sie bedeuten.
- Vergleicht Sölles Ideen aus Eurem Text mit dem, was Ihr aus der mystischen Tradition des Islam erfahren habt (M3.2, Karimi) und haltet Parallelen und Unterschiede fest.
- Bereitet Euch darauf vor, Eure Ergebnisse und Diskussionsinhalte im Plenum zu präsentieren.
M3.6 Gruppe 4: Gegen die Orientierung am Haben (294f.)
Der Psychotherapeut und Sozialwissenschaftler Erich Fromm (1900-1980) hat in »Haben oder Sein« die Frage nach dem Haben von Eckharts Predigt aus entwickelt. Fromm stellt die Besitzgier, die er im Kapitalismus wie im damaligen Staatssozialismus walten sieht, in einen Gegensatz zum Sein. Das Neue an seiner These ist das »oder« zwischen Haben und Sein. Es geht nicht um ein freundliches Neben- oder Nacheinander von erst »Haben«, um dann später »Sein« zu können.
»Da wir in einer Gesellschaft leben, die auf den drei Säulen Privateigentum, Profit und Macht ruht, ist unser Urteil äußerst voreingenommen. Erwerben, Besitzen und Gewinnmachen sind die geheiligten und unveräußerlichten Rechte des Individuums in der Industriegesellschaft. Dabei spielt es weder eine Rolle, woher das Eigentum stammt, noch ist mit seinem Besitz irgendeine Verpflichtung verbunden.« (Fromm, 1976, 73)
Diese Orientierung am Haben wird als in der menschlichen Natur verwurzelt und daher als unveränderbar angesehen. Sie zerstört die Beziehung zum Nächsten, zur Natur und zum Ich. Fromm trifft eine hilfreiche Unterscheidung zwischen dem Eigentum, das dem Gebrauch dient oder »funktional« ist, und dem reinen Besitz, der keinen Gebrauchswert hat, sondern dem sozialen Status des Ego, der Sicherung der Zukunft oder auch der sich verselbständigenden reinen Gier dient. Er sieht natürlich, dass der Mensch nicht leben kann, ohne zu haben, meint aber, dass Menschen seit der Entstehung des Homo sapiens vor allem mit Gebrauchseigentum lebten und sich 40.000 Jahre lang dem Zwang des Habenmüssens nicht unterwarfen! Erst der entwickelte Kapitalismus hat, nach Fromm, eine Mentalitätsveränderung hervorgebracht, die tatsächlich eine Neudefinition des Menschen bedeutet im Sinne des »Haste was, so biste was«, wie Sparkassenwerbung noch in den dreißiger Jahren klotzig zu lehren sich anmaßte. Die Werbung inszeniert den raschen Umschlag vom Gebrauchswert zum Besitzkult und betreibt geradezu das, wovor die mystische Tradition gewarnt hat: dass aus dem erfreulichen Besitz eine zu sichernde Last wird, dass der Herr und Besitzer zum Sklaven und Diener seines Eigentums wird. Der versprochene Palast wird zum Gefängnis.
Die mystische Tradition hilft gegen diese Tendenzen, das Sein durch Haben zu definieren, und zwar in einem doppelten Sinn. Die Radikalität des Jesus der Sufitradition, der Becher und Kamm wegwarf, um frei zu werden, und die Verrücktheiten des heiligen Franz, der Geld nur auf dem Misthaufen duldete, setzen Zeichen des Widerstands und der Schönheit, die in der größeren Freiheit vom Habenmüssen sichtbar sind. Es sind revolutionäre mystische Gesten, die zum Widerstehen einladen. Sie haben aber auch eine reformistische, alltagsbezogene Seite, weil im Wegwerfen von Besitz auch zu einem funktionalen — das heißt begrenzten, vereinfachten - Gebrauch des Eigentums angeleitet wird. Es lässt sich lernen, dass mit weniger auszukommen oft bedeutet, mehr an Zeit und Kraft für anderes zu gewinnen. Unser Verhältnis zu den Dingen wird gelassener, wir können sie als uns kurzfristig überlassene, sozusagen geliehene Dinge ansehen. Sie verselbständigen sich nicht mehr und verlieren die Macht über ihre Besitzer. Die Verrücktheit der Sufis und vieler anderer radikal eigentumskritischer Traditionen deutet hin auf diesen Jubelsprung in die Freiheit.
Aufgaben für die Gruppen 1-4
- Erklärt anhand Eures Textes, welche anderen Wertsetzungen die „mystische Tradition“ besitzt und auch lebt.
- Diskutiert in der Gruppe, inwieweit solch alternative Wertsetzungen plausibel sind bzw. welche Konsequenzen sie bedeuten.
- Vergleicht Sölles Ideen aus Eurem Text mit dem, was Ihr aus der mystischen Tradition des Islam erfahren habt (M3.2, Karimi) und haltet Parallelen und Unterschiede fest.
- Bereitet Euch darauf vor, Eure Ergebnisse und Diskussionsinhalte im Plenum zu präsentieren.
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