Warum bin ich Muslim? - Antworten von Navid Kermani
Material 3.1
„Was meinst du, warum ich Muslim bin? Sicher, ich bin Muslim, weil meine Eltern und Vorfahren Muslime waren und mir den Islam vorgelebt, nahegelegt, mich in den Glauben eingeübt haben. Wenn ich in ein christliches Haus geboren worden wäre, wäre ich heute sehr wahrscheinlich Christ. So gesehen war es Zufall, dass ich Muslim geworden bin. […]
Allerdings hätte ich mich irgendwann auch gegen den Islam entscheiden können. Der Koran betont immer wieder, der Glaube müsse auf eigener Erfahrung, eigenem Denken, eigener Erkenntnis beruhen. […] Deshalb soll der Mensch sich im Islam auch erst mit dreizehn, vierzehn Jahren bewusst für die Religion entscheiden oder eben nicht, also sobald er mündig ist.“
Material 3.2
S. 231f.
Kürzlich fragte ich einen Freund, wie er seinen Kindern die Religion beigebracht habe, und der Freund antwortete: durch die Praxis. Seine Kinder seien von klein auf in die Kirche gegangen, und ohne bereits viel zu verstehen, hätten sie die Atmosphäre erlebt, den Gesang, die Orgelmusik, die festlichen Gewänder der Priester und Ministranten, die Düfte, die Kniebeugen, die wohlklingenden Gebete usw. […] Vor jedem Weihnachten der Advent, nach Karneval das Fasten, Ostern, Himmelfahrt, Pfingsten – das ganze Jahr nicht nur nach dem Schulkalender, sondern gleichzeitig nach einer himmlischen Zeitrechnung gelebt. […] Sicher, seine Kinder hätten auch den Religionsunterricht in der Schule besucht, den Katechismus gepaukt. Aber das Entscheidende sei die Praxis gewesen, die Einübung, wie wenn man Klavier lernt.
S. 233
Ich bin nicht sicher, ob der Freund recht hat. Eine Gemeinde, eine Moschee, muslimische Freunde hatte ich als Kind so wenig wie du. [Anm.: Navid Kermanis Familie kam auf der Flucht aus dem Iran nach Deutschland. In ihrem neuen Umfeld gab es keine Moschee mit iranischer Tradition.] Dennoch lehre ich dich als Vater den Islam, so gut ich kann. Wenn ich überlege, wie ich zum Glauben fand, dann kommt mir keine Praxis in den Sinn, die ich eingeübt hätte wie Klavier. In meinem Fall waren es die Gläubigen selbst, zuerst meine Eltern natürlich, dann die Tanten, Onkel und meine eigenen Großeltern in Iran. Sie waren sehr gute Menschen, und sie waren sehr fromme Menschen, und so legten sich in meinem kindlichen Bewusstsein Güte und Frömmigkeit in eins.
Später lernte ich, dass Gläubige keineswegs immer die besseren Menschen sind, sondern oft im Gegenteil. Und doch begegnete mir immer wieder, auf allen Reisen, in allen Ländern eine Liebe wieder, die ihren Grund nicht nur in dieser Welt zu haben schien, sondern im Vertrauen auf Gott. Denn sie brauchte nichts zurück.
S.156
Der Islam macht es einem Vater schon leichter [Anm.: als das Christentum], weil dieser seinem Kinde im Grunde nur zu sagen braucht: schau dich um, achte auf die Ordnung der Natur, den Lebenswillen der Tiere, deine eigenen Instinkte, die richtig sind. Suche stets den Frieden, aber wenn du angegriffen wirst, darfst du dich wehren. Überhaupt kommt mir unser Prophet lebensnäher und ungleich pragmatischer vor als sein Vorgänger Jesus. […] Im Vergleich [Anm.: zu Jesu Forderungen, wie z.B. nach Feindesliebe] sind Mohammeds Vorgaben geradezu schlicht, etwa sein berühmtester Rat: „Vertraue auf Gott, aber binde dein Kamel an.“
Das ist ja keineswegs eine oberflächliche Aussage; darin liegt eine tiefe Weisheit, nämlich dass unser Vertrauen auf Gott nicht von der Eigenverantwortung entbindet und erst die Verbindung von beidem uns eine fromme Heiterkeit beschert. Gleichwohl können wir den Satz unmittelbar verstehen und lässt er sich anwenden in praktisch jeder Situation von Klassenarbeiten und Wettkampfsport über Liebesbeziehungen und Krebsbehandlungen bis hin zu Glaubenszweifeln oder Politik. „Vertraue auf Gott, aber binde dein Kamel an.“
S. 84f.
Oma erklärte mir das so, da war ich noch viel kleiner als du jetzt: So viele Wege führen zu Gott, überall auf der Welt, schon seit Anbeginn der Menschheit, als es noch keinen Islam gab, und wir Muslime haben nur das Glück, dass unser Weg ein bisschen gerader ist und weniger Irrungen enthält, weil Gott ihn als letzten angelegt hat. Wir fahren sozusagen auf der Autobahn. […]
Ich nehme an, selbst dieser kleine Vorteil verletzt deinen Gerechtigkeitssinn. Aber weißt du, ich finde es nicht verkehrt, wenn die Menschen ihre eigene Religion für die bestmögliche halten. Gälte alles gleich, wie du es dir zu wünschen scheinst, lösten sich die Religionen auf in einem Einerlei. Das wäre nicht nur ein gewaltiger Verlust an Einblicken, Sichtweisen, Klängen, schließlich haben die Musik, die Malerei, die Poesie und auch die Philosophie ihren Ursprung in der jeweils eigenen Religion. Um nur die deutsche Kultur zu nehmen, Bach, Beethoven und Schubert, Gryphius, Goethe oder Kafka, ob sie nun persönlich an Gott glaubten oder nicht: Die Werke, die sie geschaffen haben, sind überreich an Motiven, Fragen, Bildern aus der Bibel, aus Kirchenliedern, aus den Geschichten der Heiligen, aus der christlichen und jüdischen Mystik. Aber auch die Religionen selbst verlören ihre Kraft und ihre Faszination, wenn sie sich von anderen nicht unterscheiden würden. All die verschiedenen Kleider, die die Wahrheit bedecken, sind ja nicht nur hübsch anzusehen und zeugen von der Vielfalt und Größe des menschlichen Geistes. Nein, sie sind durchaus notwendig, weil die Umstände, Lebensbedingungen, Erfahrungen der Völker verschieden sind. Außerdem ist es sinnvoll, sich unter allen Wegen, die zum Ziel führen, für einen zu entscheiden. Wenn du zwischen unterschiedlichen Straßen ständig hin und her wechselst, weil bei der einen die Beschilderung, bei der anderen der Belag und bei der dritten die Raststätten am besten sind, kommst du nicht voran.
Vielleicht kann man das mit der Liebe vergleichen: Sie besteht ja eben darin, dass du jemanden für besonders hältst, für einzigartig, für ein Geschenk des Himmels, ob nun die eigene Frau, den eigenen Mann oder das eigene Kind. Wenn du alle Menschen gleich liebtest, wärst du niemals verliebt. Ist es so viel anders mit der Religion? Die Menschen halten ihre für die richtige, das ist nun einmal so, und je überzeugter sie sind, umso weniger leuchtet ihnen ein, dass jemand Gott ganz anders sehen könnte. Aus ebendieser Leidenschaft erwächst auch Kraft und Kreativität, Mut und Opferbereitschaft, so wie Liebende eine unglaubliche Energie entwickeln, wenn es um ihren Geliebten oder ihre Geliebte geht. Aber wenn sie nur ein bisschen zurücktreten, erkennen die Menschen natürlich, dass ihre Sichtweise gar nicht die einzig mögliche ist.
Aufgaben
- EA: In diesen Textauszügen werden vom Erzähler verschiedene Gründe genannt, warum er Muslim (geblieben) ist. Arbeite diese heraus.
- PA: Vergleicht eure Ergebnisse. Überprüft anschließend, welche Argumente euch einleuchten. Formuliert gegebenenfalls Fragen oder Einwände.
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