Zur Haupt­na­vi­ga­ti­on sprin­gen [Alt]+[0] Zum Sei­ten­in­halt sprin­gen [Alt]+[1]

Warum bin ich Mus­lim? - Ant­wor­ten von Navid Ker­ma­ni

Ma­te­ri­al 3.1

„Was meinst du, warum ich Mus­lim bin? Si­cher, ich bin Mus­lim, weil meine El­tern und Vor­fah­ren Mus­li­me waren und mir den Islam vor­ge­lebt, na­he­ge­legt, mich in den Glau­ben ein­ge­übt haben. Wenn ich in ein christ­li­ches Haus ge­bo­ren wor­den wäre, wäre ich heute sehr wahr­schein­lich Christ. So ge­se­hen war es Zu­fall, dass ich Mus­lim ge­wor­den bin. […]

Al­ler­dings hätte ich mich ir­gend­wann auch gegen den Islam ent­schei­den kön­nen. Der Koran be­tont immer wie­der, der Glau­be müsse auf ei­ge­ner Er­fah­rung, ei­ge­nem Den­ken, ei­ge­ner Er­kennt­nis be­ru­hen. […] Des­halb soll der Mensch sich im Islam auch erst mit drei­zehn, vier­zehn Jah­ren be­wusst für die Re­li­gi­on ent­schei­den oder eben nicht, also so­bald er mün­dig ist.“

(c) Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022, S.26

Ma­te­ri­al 3.2

S. 231f.

Kürz­lich frag­te ich einen Freund, wie er sei­nen Kin­dern die Re­li­gi­on bei­ge­bracht habe, und der Freund ant­wor­te­te: durch die Pra­xis. Seine Kin­der seien von klein auf in die Kir­che ge­gan­gen, und ohne be­reits viel zu ver­ste­hen, hät­ten sie die At­mo­sphä­re er­lebt, den Ge­sang, die Or­gel­mu­sik, die fest­li­chen Ge­wän­der der Pries­ter und Mi­nis­tran­ten, die Düfte, die Knie­beu­gen, die wohl­klin­gen­den Ge­be­te usw. […] Vor jedem Weih­nach­ten der Ad­vent, nach Kar­ne­val das Fas­ten, Os­tern, Him­mel­fahrt, Pfings­ten – das ganze Jahr nicht nur nach dem Schul­ka­len­der, son­dern gleich­zei­tig nach einer himm­li­schen Zeit­rech­nung ge­lebt. […] Si­cher, seine Kin­der hät­ten auch den Re­li­gi­ons­un­ter­richt in der Schu­le be­sucht, den Ka­te­chis­mus ge­paukt. Aber das Ent­schei­den­de sei die Pra­xis ge­we­sen, die Ein­übung, wie wenn man Kla­vier lernt.

(c) Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022, S.26

S. 233

Ich bin nicht si­cher, ob der Freund recht hat. Eine Ge­mein­de, eine Mo­schee, mus­li­mi­sche Freun­de hatte ich als Kind so wenig wie du. [Anm.: Navid Ker­ma­nis Fa­mi­lie kam auf der Flucht aus dem Iran nach Deutsch­land. In ihrem neuen Um­feld gab es keine Mo­schee mit ira­ni­scher Tra­di­ti­on.] Den­noch lehre ich dich als Vater den Islam, so gut ich kann. Wenn ich über­le­ge, wie ich zum Glau­ben fand, dann kommt mir keine Pra­xis in den Sinn, die ich ein­ge­übt hätte wie Kla­vier. In mei­nem Fall waren es die Gläu­bi­gen selbst, zu­erst meine El­tern na­tür­lich, dann die Tan­ten, Onkel und meine ei­ge­nen Groß­el­tern in Iran. Sie waren sehr gute Men­schen, und sie waren sehr from­me Men­schen, und so leg­ten sich in mei­nem kind­li­chen Be­wusst­sein Güte und Fröm­mig­keit in eins.

Spä­ter lern­te ich, dass Gläu­bi­ge kei­nes­wegs immer die bes­se­ren Men­schen sind, son­dern oft im Ge­gen­teil. Und doch be­geg­ne­te mir immer wie­der, auf allen Rei­sen, in allen Län­dern eine Liebe wie­der, die ihren Grund nicht nur in die­ser Welt zu haben schien, son­dern im Ver­trau­en auf Gott. Denn sie brauch­te nichts zu­rück.

(c) Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022, S.26

S.156

Der Islam macht es einem Vater schon leich­ter [Anm.: als das Chris­ten­tum], weil die­ser sei­nem Kinde im Grun­de nur zu sagen braucht: schau dich um, achte auf die Ord­nung der Natur, den Le­bens­wil­len der Tiere, deine ei­ge­nen In­stink­te, die rich­tig sind. Suche stets den Frie­den, aber wenn du an­ge­grif­fen wirst, darfst du dich weh­ren. Über­haupt kommt mir unser Pro­phet le­bens­nä­her und un­gleich prag­ma­ti­scher vor als sein Vor­gän­ger Jesus. […] Im Ver­gleich [Anm.: zu Jesu For­de­run­gen, wie z.B. nach Fein­des­lie­be] sind Mo­ham­meds Vor­ga­ben ge­ra­de­zu schlicht, etwa sein be­rühm­tes­ter Rat: „Ver­traue auf Gott, aber binde dein Kamel an.“

Das ist ja kei­nes­wegs eine ober­fläch­li­che Aus­sa­ge; darin liegt eine tiefe Weis­heit, näm­lich dass unser Ver­trau­en auf Gott nicht von der Ei­gen­ver­ant­wor­tung ent­bin­det und erst die Ver­bin­dung von bei­dem uns eine from­me Hei­ter­keit be­schert. Gleich­wohl kön­nen wir den Satz un­mit­tel­bar ver­ste­hen und lässt er sich an­wen­den in prak­tisch jeder Si­tua­ti­on von Klas­sen­ar­bei­ten und Wett­kampf­sport über Lie­bes­be­zie­hun­gen und Krebs­be­hand­lun­gen bis hin zu Glau­bens­zwei­feln oder Po­li­tik. „Ver­traue auf Gott, aber binde dein Kamel an.“

(c) Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022, S.26

S. 84f.

Oma er­klär­te mir das so, da war ich noch viel klei­ner als du jetzt: So viele Wege füh­ren zu Gott, über­all auf der Welt, schon seit An­be­ginn der Mensch­heit, als es noch kei­nen Islam gab, und wir Mus­li­me haben nur das Glück, dass unser Weg ein biss­chen ge­ra­der ist und we­ni­ger Ir­run­gen ent­hält, weil Gott ihn als letz­ten an­ge­legt hat. Wir fah­ren so­zu­sa­gen auf der Au­to­bahn. […]

Ich nehme an, selbst die­ser klei­ne Vor­teil ver­letzt dei­nen Ge­rech­tig­keits­sinn. Aber weißt du, ich finde es nicht ver­kehrt, wenn die Men­schen ihre ei­ge­ne Re­li­gi­on für die best­mög­li­che hal­ten. Gälte alles gleich, wie du es dir zu wün­schen scheinst, lös­ten sich die Re­li­gio­nen auf in einem Ei­ner­lei. Das wäre nicht nur ein ge­wal­ti­ger Ver­lust an Ein­bli­cken, Sicht­wei­sen, Klän­gen, schließ­lich haben die Musik, die Ma­le­rei, die Poe­sie und auch die Phi­lo­so­phie ihren Ur­sprung in der je­weils ei­ge­nen Re­li­gi­on. Um nur die deut­sche Kul­tur zu neh­men, Bach, Beet­ho­ven und Schu­bert, Gry­phi­us, Goe­the oder Kafka, ob sie nun per­sön­lich an Gott glaub­ten oder nicht: Die Werke, die sie ge­schaf­fen haben, sind über­reich an Mo­ti­ven, Fra­gen, Bil­dern aus der Bibel, aus Kir­chen­lie­dern, aus den Ge­schich­ten der Hei­li­gen, aus der christ­li­chen und jü­di­schen Mys­tik. Aber auch die Re­li­gio­nen selbst ver­lö­ren ihre Kraft und ihre Fas­zi­na­ti­on, wenn sie sich von an­de­ren nicht un­ter­schei­den wür­den. All die ver­schie­de­nen Klei­der, die die Wahr­heit be­de­cken, sind ja nicht nur hübsch an­zu­se­hen und zeu­gen von der Viel­falt und Größe des mensch­li­chen Geis­tes. Nein, sie sind durch­aus not­wen­dig, weil die Um­stän­de, Le­bens­be­din­gun­gen, Er­fah­run­gen der Völ­ker ver­schie­den sind. Au­ßer­dem ist es sinn­voll, sich unter allen Wegen, die zum Ziel füh­ren, für einen zu ent­schei­den. Wenn du zwi­schen un­ter­schied­li­chen Stra­ßen stän­dig hin und her wech­selst, weil bei der einen die Be­schil­de­rung, bei der an­de­ren der Belag und bei der drit­ten die Rast­stät­ten am bes­ten sind, kommst du nicht voran.

Viel­leicht kann man das mit der Liebe ver­glei­chen: Sie be­steht ja eben darin, dass du je­man­den für be­son­ders hältst, für ein­zig­ar­tig, für ein Ge­schenk des Him­mels, ob nun die ei­ge­ne Frau, den ei­ge­nen Mann oder das ei­ge­ne Kind. Wenn du alle Men­schen gleich lieb­test, wärst du nie­mals ver­liebt. Ist es so viel an­ders mit der Re­li­gi­on? Die Men­schen hal­ten ihre für die rich­ti­ge, das ist nun ein­mal so, und je über­zeug­ter sie sind, umso we­ni­ger leuch­tet ihnen ein, dass je­mand Gott ganz an­ders sehen könn­te. Aus eben­die­ser Lei­den­schaft er­wächst auch Kraft und Krea­ti­vi­tät, Mut und Op­fer­be­reit­schaft, so wie Lie­ben­de eine un­glaub­li­che En­er­gie ent­wi­ckeln, wenn es um ihren Ge­lieb­ten oder ihre Ge­lieb­te geht. Aber wenn sie nur ein biss­chen zu­rück­tre­ten, er­ken­nen die Men­schen na­tür­lich, dass ihre Sicht­wei­se gar nicht die ein­zig mög­li­che ist.

(c) Navid Ker­ma­ni: Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kom­men, Han­ser-Ver­lag 2022

Auf­ga­ben

  1. EA: In die­sen Text­aus­zü­gen wer­den vom Er­zäh­ler ver­schie­de­ne Grün­de ge­nannt, warum er Mus­lim (ge­blie­ben) ist. Ar­bei­te diese her­aus.
  2. PA: Ver­gleicht eure Er­geb­nis­se. Über­prüft an­schlie­ßend, wel­che Ar­gu­men­te euch ein­leuch­ten. For­mu­liert ge­ge­be­nen­falls Fra­gen oder Ein­wän­de.

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [docx][7 MB]

Ma­te­ria­li­en: Her­un­ter­la­den [pdf][4 MB]